Drift
nickte.
»Selbstverständlich.«
Während der Kellner ein neues Glas für Martin füllte – vermutlich ohne die Bestellung in die Kasse zu tippen –, verschwand Martin kurz auf dem Klo, um sich einen Verdauungsschnupf zu gönnen – ein klein wenig vom Braunen, ein klein wenig vom Weißen, und Martin fühlte sich nicht mehr wie eine frisch gestopfte Gans, sondern wie frisch geboren.
Er kam zurück in den Frühstückssaal, wo mittlerweile zwei Tische besetzt waren, leerte seinen Whisky im Stehen und ging zur Rezeption, seine Sachen holen.
»Vielen Dank noch für den ausgezeichneten Service«, sagte er zum jungen Mann, der zur Glasschiebetüre vorauseilte und mit der Hand vor dem Sensor winkte, bis sie sich öffnete.
»Vielen Dank für Ihren Besuch und bis zum nächsten Mal.«
Martin grinste. Er wusste, dass die Wahrscheinlichkeit, dass er |246| je wieder hier absteigen würde, gegen null ging, wollte aber nicht unhöflich sein, also lächelte er nur und nickte.
»Danke und bis zum nächsten Mal.«
Er hielt dem Jungen die Hand hin, in der er eine gefaltete Zwanzigernote hielt, und der junge Rezeptionist schüttelte Martins Hand und ließ die Note in seiner Hosentasche verschwinden, als wäre nichts gewesen; wenn er es sich schon nicht leisten konnte, dem Jungen gebührend Trinkgeld zu geben, so hatte er ihm wenigstens die Gelegenheit geboten, die Routine zu üben – für Herren, die größere Scheine parat hatten.
Martins Schritt war leicht, der Bahnhof gleich um die Ecke und die Sonne begann gerade, den Morgen aufzuwärmen; er fühlte sich unbesiegbar und freute sich auf das Abenteuer Bern, auf einen neuen Abschnitt in seinem Leben und über die vielen Drogen und Kassetten mit den Interviews, er freute sich darauf, sich zu verbarrikadieren und sofort an die Arbeit zu machen, die Wohnung nur zu verlassen, wenn es nicht anders ging: Das Manuskript würde in spätestens zwei Monaten fertig sein, schwor er sich, und dann, ja dann würde sie schon sehen – wenn er mit dem Vertrag und dem Check mit dem Vorschuss vor ihr stand … Sie würde ihm in die Arme fallen wie früher, als nichts stärker war als die Anziehung zwischen ihnen beiden.
Er schwebte förmlich zum Ticketschalter, kaufte sich ein Billet nach Bern – one way. Wer wusste schon, wann er wieder zurückkommen würde, vielleicht nie wieder. Er machte es sich an einem Tisch, der draußen vor einem der Cafés stand, bequem: Von hier aus hatte er die Ankunfts- und Abfahrtstabelle im Blick und konnte sich in aller Ruhe die Leute ansehen, die zur Arbeit hasteten, während er gemütlich seinen x-ten Whisky trank und zwischendurch auf dem Klo verschwand, um seine Nase zu pudern – Seesack und Tasche in der Obhut einer älteren Dame lassend, die neben ihm Platz genommen hatte.
|247| Als später durchgesagt wurde, dass der Intercity von St. Gallen nach Zürich und weiter nach Bern soeben auf Gleis siebzehn einfahre, verabschiedete er sich von der Frau, bedankte sich nochmals dafür, dass sie zwei Mal auf seine Sachen aufgepasst hatte, und versicherte ihr nochmals, dass er versuchen werde, es gemächlicher zu nehmen als der Rest der Menschheit; während eines kurzen Schwatzes über die Hektik der heutigen Zeit hatte sie ihm ein Versprechen diesbezüglich abverlangt.
»Tun Sie das, tun Sie das, junger Mann«, sagte die Alte mit krächzender Stimme und nickte bedeutungsvoll.
Martin ging in Richtung der Geleise und drehte sich nochmals zur Alten um: Sie nickte noch immer vor sich hin. »Nur nicht alt und einsam werden«, dachte er. »Alles, nur das nicht.«
Er vergewisserte sich mit einem Blick auf die riesige Schalttafel, dass er zum richtigen Gleis unterwegs war, und als er sich wieder umdrehte, stand sie plötzlich vor ihm. Keine Spur von Liebe, keine Wärme, keine Zärtlichkeit; sie sah ihn an, als wäre er ein Weichtier auf dem Seziertisch.
»Hi«, sagte sie.
»Helena«, brachte er knapp hervor.
Schweigen. Seine Gedanken rasten im Kreis, er wollte sie in die Arme nehmen und machte einen halben Schritt auf sie zu, doch Helena hob sofort beide Hände und wich zurück.
»Nein«, sagte sie nur, und Martin hielt mitten in der Bewegung inne. Was jetzt? Was tun?
»Helena …«
»Martin, ich muss weiter.«
»Warte, Helena. Wollen wir nicht einen Kaffee …«
»Nein, Martin, tut mir leid. Ich kann nicht.«
»Helena, ich bitte dich!«
»Nein. Ich, ich muss los, Martin. Mach’s gut.«
Sie hob die Hand und Martin wollte sie ergreifen,
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