Drift
der Dämmerung konnte Martin nicht erkennen, ob das kleine, orange Boot mit dem alten Mann an Bord noch da war. Er lief zum Ende des Piers und sah, als er dort etwas außer Atem ankam, zur gegenüberliegenden Seite des Hafens, wo er zwar die in den Stein eingelassene Treppe ausmachen konnte, die bis auf Meereshöhe hinunter reichte, aber kein Boot.
»Du suchst wohl mich, junger Mann?«
Martin zuckte zusammen. Wo, zum Henker …
»Ich bin hier, Junge.«
Martin drehte sich nach links und erkannte die Umrisse des Alten, der auf dem Rand seines kleinen Ruderbootes saß und sich mit der rechten Hand an der speckigen Einbuchtung festhielt, die Tausende Finger über die Jahrhunderte im Stein hinterlassen hatten.
»Entschuldigen Sie«, sagte Martin und lächelte, »ich habe Sie hier vorne gesucht.«
|42| »Spring rein.«
Der alte Mann stand auf und reichte Martin den Arm. Martin lehnte dankend ab.
»Wie du willst«, sagte der Alte, zuckte mit den Schultern und setzte sich wieder hin. Martin sprang geschickt in das Boot und nahm Platz. Einen Moment lang saßen sie schweigend im Dunkeln.
Worauf warteten sie eigentlich?
»Wir warten auf das Mädchen da«, sagte der Mann, als hätte er Martins Gedanken erraten.
»Welches Mädchen?«
»Das Mädchen, das da über den Pier kommt.«
Martin kniff die Augen zusammen, konnte aber nichts erkennen.
»Ich sehe nichts.«
»Macht nichts«, sagte der Alte ruhig und fügte ohne den leisesten Anflug von Zynismus hinzu: »Ich sehe sie ja.«
Es war ein äußerst attraktives Mädchen, wie Martin sofort feststellte, als er dem Alten zuvorkam und ihr die Hand reichte, um ihr beim Einsteigen zu helfen. Er bot ihr den Platz in der Mitte des Ruderbootes an und setzte sich ihr gegenüber auf die Bank im Heck.
»Na, dann wollen wir mal«, sagte der Alte, stieß das Boot vom Pier ab und nahm die Ruder.
Langsam, mit ruhigen Bewegungen, begann er, das Boot voranzutreiben.
»Und, siehst du sie jetzt?«
»Wen?«, fragten Martin und das Mädchen unisono.
»Ich rede mit ihm, Liebste, mit dem armen Jungen da.«
Das Mädchen beugte sich vor, um Martins Gesicht genauer zu betrachten.
»Warum armer Junge?«, fragte sie den alten Mann.
»Er hat dich vorhin nicht gesehen.«
»Was?«, sagte das Mädchen mit gespielter Entrüstung, »du hast
mich
nicht gesehen?«
|43| Sie hatte große, mandelförmige Augen undefinierbarer, in der Dämmerung nicht erkennbarer Farbe, einen vollen Mund und ein, wie Martin es nannte, schlankes Gesicht. Sie war zweifelsohne eine Schönheit.
Wie war es möglich, dass der Alte sie in diesem Licht gesehen hatte und er nicht? Vor allem bei dieser Figur, mit den perfekten langen Beinen, der schmalen Taille und den jugendlich-weiblichen Hüften; er hätte sie sehen müssen!
Das Mädchen schaute ihn immer noch mit hochgezogenen Augenbrauen an und wartete auf eine Antwort.
»Das stimmt nicht ganz«, sagte Martin. »Ich habe dich zwar vorhin nicht gesehen, aber ich habe von dir geträumt, seit ich denken kann.«
Die junge Frau wurde rot, dessen war sich Martin sicher, denn obwohl er die Farbe ihrer Haut nicht erkennen konnte, so zeigten ihr Mund und ihre Augen statt gespielter Entrüstung echtes Erstaunen und Verlegenheit, und sogar der Alte, der zuvor konzentriert zur anderen Hafenseite geschaut hatte, richtete seinen Blick kurz auf Martin, überrascht ob dessen Antwort.
»Ein Poet, meine Liebe«, sagte er und sah wieder nach vorne, »vor dem nimmst du dich besser in acht!«
Das Mädchen sah Martin immer noch an, geschmeichelt und amüsiert zugleich.
»Kein Poet«, sagte Martin, »aber verliebt.«
»Du kennst mich?«, fragte sie unsicher.
»Ja und nein«, sagte Martin.
»Nein«, sagte der Alte, ohne sich umzudrehen, »er kennt dich nicht. Aber er
sieht
dich.«
Das Mädchen fixierte Martin noch einen Moment lang, dann sah sie weg, zu den Lichtern der Stadt hinüber, zur Brücke, die das Festland mit der Halbinsel der Altstadt verband, zum Kirchenturm und zu den Fischerbooten, die eins hinter dem anderen steuerbord am Hafenquai festgebunden waren. Sie schaute überall hin, nur nicht in |44| Martins Richtung. Und Martin beließ es dabei. Er wollte die Wirkung nicht zerstören, die er dank des Alten bei der jungen Frau hatte erzielen können. Also schwieg er, bis sie auf der anderen Seite angekommen waren und der Barkajol das kleine Boot neben die Treppe am Quai setzte. Martin gab ihm einen Zehner.
»Es kostet fünf«, sagte der Alte. »Es sei denn, du zahlst
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