Drift
klettern, das Seil hochziehen und es so zurechtrollen und hinter dem Kreuz zurechtrücken wird, dass man die nächsten eineinhalb Stunden überlebt, ohne dabei einen so steifen Rücken zu bekommen, dass der einzige Weg runter vom Baum, um die Ablösung zu wecken, der direkte Fall aus drei Metern Höhe wäre.
Klaus Kinskis und Bela Lugosis Gesichter ziehen Fratzen schneidend über die Leinwand im Kopf und all die Schönen lassen sich willenlos in den Hals beißen und plötzlich ist da Marina und sofort hat man einen Ständer und greift danach, als einem Joskos Worte durch den Kopf schießen, seine Warnung, mit kühlem Hass zu |230| kämpfen – aber von Kämpfen mit einem Ständer in der Hose hat er nichts gesagt und man würde am liebsten Gürtel und Hosenknöpfe öffnen und abspritzen, aber bei dem Glück, das man im Leben generell so hat, würde Marina vermutlich in genau dem Moment den Ästedeckel heben, in dem es so weit ist, was zwar peinlich, aber nicht katastrophal wäre, weshalb das Hirn auch sofort die Möglichkeit einer Planänderung produziert und statt Marina das Bild eines sich über das Loch und die heruntergelassenen Hosen und den Ständer bückenden Antun auf die Leinwand projiziert, was die Schwellung augenblicklich zurückgehen lässt und das Blut aus dem Schwanz wieder zurück ins Hirn pumpt, und kaum ist das passiert, hört man Marinas Stimme den eigenen Namen flüstern und man dankt Gott für das Bild Antuns, ohne das man mit der Latte in der Hand vor Marina liegen würde, jetzt, wo sie die Äste gehoben hat. »Du bist dran«, sagt sie und ihr Gesichtsausdruck verändert sich von sachlich und müde zu interessiert und das absolut Richtige vermutend, als sie sieht, wie man verwirrt und übertölpelt instinktiv mit der Hand an der Hose zieht, um die noch vorhandene Wölbung zu kaschieren.
Man klettert aus dem Loch und steht ungelenk, mit abklingender, hinter dem Gewehrkolben versteckter Erektion daneben, bis sie sich hingelegt hat. »Worauf wartest du?«, fragt sie und man sagt, man wolle ihr mit dem Zudecken helfen, aber sie wimmelt einen ab, man solle machen, dass man auf den Baum komme. Also dreht man sich um, geht zum Baum und klettert mit Hilfe des Seils hoch, was einen mehr Kraft kostet, als man gedacht hätte, und man versucht es sich einigermaßen bequem zu machen, was sich als unmöglich herausstellt. Man zieht das Seil hoch, rollt es so zusammen, wie man es bei Marina gesehen hat und stopft es zwischen Kreuz und Baum.
Unten liegt Marina zugedeckt im Loch, man kann fast nicht erkennen, wo genau, obwohl es inzwischen taghell ist. »Was jetzt?«, fragt man sich, schließlich hat man noch nie Wache gehalten und schon gar nicht auf einem Baum. Schmiere hat man gestanden, |231| wenn Freunde über den Zaun des Nachbarn geklettert sind, um Kirschen vom Baum zu klauen, das ja, aber jetzt, hier, was soll, was muss man tun? Möglichst oft in alle Richtungen schauen oder versuchen, sich an die Geräusche des Waldes gewöhnen und ungewöhnliche, nicht in die natürliche Orchestrierung passende herauszuhören?
Man entscheidet sich für die zweite Variante und schließt die Augen, merkt allerdings sofort, dass das nicht geht, weil man nicht nur das Gleichgewicht verlieren und vom Baum fallen, sondern weil man, sollte man die Balance so lange behalten, einschlafen und dann vom Baum stürzen würde. Also öffnet man die Augen und lässt den Blick langsam in alle Richtungen wandern. Nichts. Vögel, Gezwitscher, Erinnerungen an die Jugend und die Indianerspiele im Wald neben dem Dorf, Versteckenspiele, mit selbstgebasteltem Pfeil und Bogen auf Bäume schießen, lachende Gesichter von Brüdern und Jugendfreunden, an deren Namen man sich nicht mehr erinnert, ein Leben aus einem anderen Film, ein Leben in einer anderen Realität, einer Welt, die mit der jetzigen nichts zu tun hat, und unwillkürlich fragt man sich, was das Leben, sollte man diesen Krieg überstehen, noch für einen bereithalten wird und ob einem in einer fernen Zukunft die jetzige Situation genau so fremd vorkommen wird, wie es die eigene Jugend hier auf diesem Baum gerade tut.
Die Gedanken spinnen herum, als wollte der Kopf einem helfen, die eineinhalb unbequemen Stunden zu überstehen, und als man irgendwann auf die Idee kommt, mal auf die Uhr zu sehen, sind schon zehn Minuten mehr vergangen, als man auf dem Baum hätte verbringen müssen, und man bewegt sich zunächst zögerlich, dann, sowie das Blut wieder besser zirkuliert,
Weitere Kostenlose Bücher