Dritte Halbzeit: Eine Bilanz (German Edition)
ruft die Krise in der Samstagabendunterhaltung aus, redet vom Tiefpunkt, vom allertiefsten Tiefpunkt – ein ech ter Delling eben. Sein Trauzeuge Günter zündelt weiter, spricht vom schönen Mist, vom allerschlimmsten aller Spiele, noch schlimmer als das zweitallerschlimmste davor. Ich denk mir nur in unserem Dorfsportplatzstudio: Au weh, das wird ihm jetzt nicht so gefallen, dem Teamchef. Das könnte ein kompliziertes Interview werden.
Es hat ihm auch nicht so gefallen, dem Teamchef. Die Kamera ist noch aus, aber ich merke schon: Aus den Ohren und den Nasenlöchern des Vulkans aus Hanau kräuselt der erste Rauch. Der Hessen-Ätna steht unmittelbar vor dem Ausbruch. Damals gab es noch nicht so viele Kochshows im Fernsehen – aber Rudi wäre eine gute Frühversion von Tim Mälzer gewesen. Ein Mann kocht live im TV . Mein nächster Gedanke war: Gut, dass wir uns siezen!
Der Überdruck im südhessischen Sizilianer klettert auf Rekordwerte, als Delle und Günter immer beherzter, mit Liebe, Lust und Leidenschaft auf Völlers Schutzbefohlene einprügeln. Man muss sagen: Wenn die deutschen Spieler auf dem Platz so viel Engagement gezeigt hätten wie Netzing beim Zündeln, wäre das Folgende gar nicht passiert. Zumal Rudi gar nicht genau weiß, von was unser Wortspielweltmeister Delling da überhaupt fabuliert – dass Deutschland gerade die Krise in der Samstagabendunterhaltung bei Wetten, dass …? und Co. diskutiert, ist vor lauter EM -Qualifikation spurlos an ihm vorbeigegangen. Er hört nur: Tiefpunkt. Tiefster Tief punkt. Allertiefster Tieftiefpunkt. Die Reise zum Mittelpunkt der Erde. Das Allerschlimmste war das Fazit von Gerd Delling: »Wenn man sagt, das Spiel war enttäuschend, ist das eindeutig ein bisschen zu wenig.«
Und dann geht es los. Ich höre noch, wie Delle einleitet: »Und jetzt ist der Bundestrainer bei Waldemar Hartmann.« Das war er auch, liebe Freunde, und zwar schon viel länger, als ihr da oben gedacht habt. Als Rudi zu reden anfängt, merke ich gleich: Der hat einen ganz trockenen Mund, der hat gar keinen Speichel mehr. Waldis Wattebäuschchen zur gepflegten Intervieweinleitung bleiben an diesem Abend im Köfferchen, keine Zeit für Zärtlichkeiten – es braucht nur einen sanften Hinweis auf Dellings Rekordtiefpunkt, und der Ätna bricht aus. Oder ist es der Vesuv? Ich würde sagen: beide gemeinsam, der erste Simultan-Vulkanausbruch der jüngeren Geologie. Rudi legt los, aus dem Stand von null auf tausend. Ich sitze bloß daneben und brauche keine zwei Sekunden, um zu überreißen: »Waldi, das schreibt jetzt gerade Fernsehgeschichte. Ein rasender Bundestrainer!«
Und was hat der Rudi alles abgelassen! »Käse, Scheiß, Saue rei vom Delling, ich kann diesen Scheißdreck nicht mehr hören, Gelabere, ich sitze jetzt seit drei Jahren hier und muss mir diesen Schwachsinn immer anhören. Soll er doch Samstagabendunterhaltung machen, der Delling, soll er Wetten, dass …? machen und den Gottschalk ablösen, soll er den Beruf wechseln, das ist besser! Der Günter, was die früher für einen Scheiß gespielt haben, da konntest du ja gar nicht hingehen, die haben Standfußball gespielt früher! Das ist das Allerletzte, ich lasse mir das nicht mehr so lange gefallen!« Uff, Luft holen – und dann weiter im Text …
Rudi war grandios, großartig, genial in seiner Wut. Die Leute fragen mich immer wieder: Wie ging es dir dabei? Ganz ehrlich: Ich war glücklich – durfte es aber nicht zeigen, musste mich zwingen, nicht zu grinsen, sondern stattdessen aufzupassen, dass ich meine Freude verberge.
Es ist ja so: Ich habe immer Marcel Reif und Günther Jauch beneidet, die kommentieren durften, als 1998 in Madrid das Tor umfiel. Damals, als Marcello der göttliche Satz einfiel: »Noch nie hätte ein Tor einem Spiel so gutgetan.« Ich lag an diesem Abend daheim auf der Couch, habe den beiden zugehört und mich prächtig amüsiert – aber auch mit dem Schicksal gehadert: Warum ist das nicht mir passiert? Jetzt sind die beiden ohnehin schon ganz oben, und dann fällt ihnen auch noch so ein Tor vor die Füße! Herrgott, warum bist du so ungerecht zu mir?
Und jetzt hatte ich mein umgefallenes Tor und mein Madrid – in Reykjavik, am Ende der Welt.
In meinem Dorfsportplatz-Studio fliegt mir mittlerweile alles an mittelschweren und schweren Schimpfwörtern um die Ohren, was Goethes schöne deutsche Sprache zu bieten hat. Und in meinem Kopf fährt ein einziger Satz Karussell: »Super, Rudi, mehr davon, du bist
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