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Drop City

Drop City

Titel: Drop City Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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machen, als sie spürte, wie die Wärme an ihrer Seite verschwand, und dann blickte sie auf Marcos zerschlissene Jeans und das verblichene Leder seiner Stiefel, die sich jetzt in den Boden stemmten. »Hey!« sagte er. »Hey, alle mal herhören!« Er steckte sich zwei Finger in den Mund und brachte einen jener Fingernagel-auf-Schultafel-Pfiffe hervor, die man bei Footballspielen und Rockkonzerten hörte.
    Es wurde still. Alle sahen ihn an. »Sagt mal, warum geht nicht einfach jemand hin und redet mit ihnen?«
    »Mit denen reden?« wiederholte Alfredo ungläubig. »Wenn sie reden wollten, wären sie ja wohl hier, oder? Aber nein, die bleiben unter sich und saufen lieber, oder sie suchen sich die nächste Vierzehnjährige zum Vernaschen.« Er sah sich im Raum um. »Und wer sollte das denn machen? Du etwa? Meldest du dich freiwillig?«
    »Ja«, sagte Marco und nickte langsam. »Ich denke schon.«
    An jenem ersten Tag, als er sie in seinen Baum gehoben hatte, als würde der Wind durch sie hindurchwehen, war es ein Gefühl, als wäre sie die Heldin in einem Märchen, wie Rapunzel vielleicht – oder nein, das ging anders. Wie Leda vielleicht, total eingehüllt in ihre gefiederte Pracht. Leda und der Schwan . Das war ihr Lieblingsgedicht im Literaturkurs gewesen, immer wieder hatte sie es gelesen, bis es ein Teil von ihr geworden war: so viel Wirrwarr und Verhängnis, das da einem einzigen leichtfertigen Moment entsprang, und das hatte schon was, o ja, aber was ihr das Blut ins Gesicht steigen und die Finger kribbeln ließ, das war das Bizarre an dem geschilderten Akt selbst. Sich das vorzustellen. Davon zu träumen. Das Flattern der Flügel, der Geruch, die Gewalt. In allen übrigen Gedichten der Anthologie ging es um Blumen oder den Tod oder griechische Vasen, aber dieses handelte davon, mit einem Schwan zu ficken. Sie erinnerte sich an ihr Erstaunen und wie sie erst überlegt hatte, wie das gehen könnte – hatten denn Vögel überhaupt einen Penis? –, nicht nur die Fragen der Mechanik, sondern die Szene als Ganzes. Hob er sie hinweg in die Lüfte, oder fühlte es sich nur so an? Wie groß war er überhaupt? Und wessen Samen trug er in sich – den von Zeus, hatte der Prof gesagt, aber wie konnte das funktionieren, und wäre Helena dann nicht zur Hälfte ein Vogel gewesen?
    Marco hatte ihr einen Joint gereicht, und sie hatte ihn reflexartig genommen. Die drei Tage davor hatte sie ihren Kopf gereinigt und nichts Stärkeres als Früchtetee zu sich genommen, Maya hatte Zwiebeln geschält und mit ihrer piepsigen Spinnenstimme was darüber gebrabbelt, daß man auch ohne Drogen zu einem natürlichen High gelangen konnte, zu jenem Einssein, von dem die Gurus sprachen, zur Glückseligkeit in einer überhitzten Küche, aber drei Tage waren eigentlich lange genug. Jetzt brauchte sie etwas zum Durchstarten, eine schnellere Methode zur Bewußtseinserweiterung, als tausendmal Om Mani Padme Hum vor sich hin zu leiern, denn ihr Bewußtsein war wie ein verstopfter Abfluß, in dem noch die Erinnerung an Ronnie und die Überreste von zu Hause klebten. Außerdem mußte sie sich eingestehen, daß sie sich etwas verlegen fühlte in Gegenwart dieses nackten Freaks, der sich das rotblonde Haar wie einen Vorhang vors Gesicht schwingen ließ, so daß man seine Augen gar nicht sah, denn jetzt, da sie ihn tatsächlich in seinen Horst begleitet hatte, war alles anders. Er wußte nicht, was er zu ihr sagen sollte, und ihr fiel auch nichts ein. Der Joint war eine Opfergabe. Er war der große Gleichmacher, die heilige Kommunion, kiff dich voll und starr in die Leere, und wozu überhaupt reden? Sie rauchten ihn, bis auch der letzte Rest des Stummels zerfiel, gaben ihn weiter von Finger zu Finger, von Lippe zu Lippe, und keiner sagte ein Wort.
    In der Luft lag süßlich der Duft des Joints. Vögel ließen sich auf dem hölzernen Geländer nieder und musterten sie, als wären sie nichts als Bestandteile des Baumes, irgendeine unverhoffte Frucht, eine Nuß ohne Schale oder auch vielleicht ein Brandgeschwür, das gerade durch die Borke brach. Sie legte sich zurück, zerfloß in sich selbst, während die Geräusche der allmählich erwachenden Kommune – leise Stimmen, ein Klatschen im Pool, Musik aus dem Radio – aus der Ferne zu ihnen hinaufdrangen.
    »Waschtag«, sagte er und fügte ein gepreßtes Kichern hinzu, das eigentlich beiden die Befangenheit nehmen sollte, und das hätte auch funktioniert, wenn es ihm nicht in der Kehle zu Staub vertrocknet

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