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Drop City

Drop City

Titel: Drop City Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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legte er an, das Blut raste in seinen Adern – nicht danebenschießen, bloß nicht! –, und drückte ab. Donner und Blitz rissen die Nacht auf, und dennoch blieb das Vieh wie angewurzelt stehen. Erst als er den zweiten Schuß abfeuerte, sank es in einem dunklen Gleiten zu Boden, und er sprang sofort hinzu, mit zitternden Händen und schwach gewordenen Beinen wollte er sich seine Beute holen.
    Der Schnee fiel mit mahnendem Zischen durch die Fichtennadeln. Marco stolperte vorwärts, eine Kugel hatte er noch, die in der Winchester, und er betete, daß das Vieh tot war, daß er nicht noch einen Schuß opfern mußte, denn zwei waren genug für einen Tag, mehr als genug. Und dann war er dort, bei dem Baum mit seinen engverwobenen Nadeln und der Rinde, die nach Harz roch, nach Badezusatz und Bodenpflege, und er merkte, daß das kein Elch war, was da – verletzt oder erlegt – als Haufen im Schnee lag. Im selben Moment hörte er einen gellenden, herzzerreißenden Laut, den Schrei eines Menschenbabys, das irgendein Unhold gerade mit dem Bajonett aufspießte, und er sah nach unten. Dort, zu seinen Füßen, lag wirklich etwas, eine schwarze, matt zappelnde lebende Gestalt, ein Tier, auf das er geschossen hatte, weil es sich gut zwei Meter über der Erde an den Baumstamm gekrallt hatte und ihm so als der Kopf eines Elchs erschienen war. Und was war es? Ein borstiges kleines Wesen, dessen Lebensgeister rasant durch das Loch entwichen, das er ihm verpaßt hatte – ein Stachelschwein, der bucklige, hoppelnde alte Mann der Wälder, bestenfalls als Hundefutter geeignet.
    Lange Zeit stand er reglos da und sah zu, wie das Ding den stachligen Kopf gegen den Boden schlug, auf und nieder, auf und nieder, ein Metronom im Takt seiner Schmerzen und des ungläubigen Staunens – oder war das der Schwanz? Dabei gab das dunkle Klopfen auch dem vergeblichen Pulsieren seines eigenen Bluts den Rhythmus vor. Er fühlte sich verloren und hilflos und unfähig, empfand Scham, empfand Schuld. Und dann, während die Nacht noch dunkler wurde und der Schnee auf sein schutzloses Gesicht niederpeitschte, trat er mit dem Stiefelabsatz auf die dunkle Masse zu seinen Füßen ein, bis sie sich nicht mehr rührte, dann hetzte er davon, um den Weg wiederzufinden, auf dem er gekommen war.

29
    Sie war schon immer ein Nachtmensch gewesen, jedenfalls schätzte sie sich selbst gern so ein. Nachtmenschen trieben sich in Discos herum, schliefen morgens aus und sogen den Glanz aus den schwindenden Stunden der Nacht, während die Spießerwelt pennte und von abgezahlten Hypotheken träumte. Niemand wollte ein Morgenmensch sein. Denn das waren die, die um halb acht Uhr grinsten und grienten und einem ihren Frohsinn entgegenschleuderten, wenn man nur mit Mühe auf den eigenen Namen kam und seine Bluse mit dem schicken Kragen falsch herum anhatte und die anderen Studenten – wohl auch alles Morgenmenschen – bereits in den Hörsaal strömten und ihre übermotivierten Hormone mit den Stoffwechselstörungen in Konflikt treten ließen. Ihre Mutter war ein Morgenmensch gewesen. Und Reba – Reba war auch so ein Morgenmensch.
    Star saß vor dem Tisch im Versammlungsgebäude, bereitete mal wieder eine Mahlzeit für die ganze Kommune zu – Eintopf aus getrocknetem Lach, mit Reis als Stärkemittel, dazu Tomaten und Erbsen aus Riesendosen, um etwas Farbe dazuzumengen – und lächelte vor sich hin, während Merry die Zwiebeln hackte und Maya mit dem Messerrücken auf den Dörrfisch einhämmerte. Nachtmenschen. Morgenmenschen. Hier oben besaß dieser Unterschied kaum eine Bedeutung, da jetzt sowieso praktisch pausenlos Nacht war, die Sorte Nacht, die sie einem in den Casinos von Las Vegas vorgaukelten, damit man nie aufzuhören brauchte, ihnen sein Geld rüberzuschieben, die Nacht der Kriegsgefangenen, denen man schwarze Säcke über den Kopf zieht, eine schwarze, endlose Nacht. Es war drei Uhr nachmittags, das jedenfalls behauptete der einzige Zeitmesser, über den Drop City verfügte, Alfredos Timex mit dem fünf Zentimeter breiten Lederarmband. Irgendwer hatte gesagt, draußen falle Schnee. Jemand anders meinte, es schneie bereits seit Stunden. Der Hund sah kurz auf und legte dann den Kopf wieder nieder, wie eine Last, die ihm zu schwer geworden war. Im Raum hingen die Leute herum, in ungewaschenen Kleidern und mit filzigem Haar, alle waren verstrubbelt, verschwiemelt und deprimiert, und das allgemeine Energieniveau bewegte sich um Null – es sah nicht einmal danach aus,

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