Drop City
waren die persönlichen Feindseligkeiten, die seit jeher aus dem Nichts heraus aufflammen konnten, aber nie so leicht wie jetzt, da die Sippe in vier Blockhäusern eingepfercht war und kein kalifornischer Sonnenschein individuellen Groll wegmassierte – und die Bewohner wechselten wie in einem Hütchenspiel mit Menschen so geschwind zwischen den einzelnen Häusern hin und her, daß selbst Star oder Merry nur mühsam auf dem laufenden blieben, wer nun gerade mit wem über Kreuz war. Meistens kamen die Leute einfach herein, luden sich etwas aus dem Topf auf den Teller und verschwanden damit in einem der Häuser. Dies war auch der Grund für eine neue Maxime auf Drop City: jeder war für sein Geschirr selbst verantwortlich. Man kratzte seine Initialen in den Boden der glasierten Teller und Schüsseln ein, und manch einer, zum Beispiel der irre George, hatte sein Geschirrlimit bereits erreicht und mußte nun aus alten Pfirsich- oder Aprikosenbüchsen essen.
Zum Essen tauchte auch Norm auf, mit Premstar, Reba und den Kindern im Gefolge, aber er war irgendwie anders als sonst. Er stampfte und brüllte nicht herum, er rief auch keinen lauten Gruß in die Runde, sondern zog sich nur mit gesenktem Kopf den Parka aus und reihte sich in die Essensschlange ein. Frisches Vollkornbrot lag oben im Regal über dem Ofen, Butter nahm man sich aus einer großen Dose. Dazu gab es Reis mit Lachs, kräftig mit Sojasauce versetzt, und diverse Limonaden zum Runterspülen, außerdem drei große Zwei-Liter-Krüge mit Tom Krishnas heftigem Eigenbräu und zwei Pfannen voll Brownies. Eine karge Kost, aber wenigstens war genug davon da, und die Vegetarierinnen waren froh, daß Marco einstweilen noch kein Gewehr hatte, denn ansonsten wären jeden Abend zwei Gerichte zu kochen gewesen, eines mit Elchfleisch oder was auch immer, das andere ohne.
Es schneite immer noch. Star neigte nicht zu sinnloser Sorge oder zu der Paranoia, die bestimmte Sorten und Qualitäten von Marihuana auslösen können – oder vielleicht neigte sie doch dazu –, aber als das Essen auf dem Tisch stand, war sie nervlich ein Wrack. Es gab immer noch keine Spur von Marco. Eineinhalb Stunden dauerte es bis zum Woodchopper Creek, vielleicht zehn Minuten, um seine Sache zu erledigen, und dann wieder eineinhalb Stunden zurück. Drei Stunden und zehn Minuten, und er war jetzt schon sechs Stunden lang weg, wenn nicht länger. Etwas früher am Abend, als der Lachs in der Pfanne brutzelte, hatte sie Merry und Maya dazu gebracht, mit ihr hinauszugehen und seinen Namen in den Schneesturm zu brüllen. Sie hatten Freak mitgenommen, in der Hoffnung, daß er Marcos Witterung aufnehmen würde, und sie waren flußabwärts bis zum Haus von Sess und Pamela gegangen, aber Marco war nicht dort, und die beiden hatten ihn auch nicht gesehen. Pamela sagte, wahrscheinlich sei alles in Ordnung, er könne doch in Boskys Haus geblieben sein, als es zu schneien anfing, oder sich irgendwo einen Wetterschutz gebaut und ein Feuer angezündet haben, schließlich hatte Sess doch sicher schon hundertmal bei viel schlechterem Wetter draußen campiert, oder? Das hatte Sess. Er bejahte es. Aber Pamela sagte nur, was man in so einer Situation eben sagte, um sie zu beruhigen, und obwohl Star total high war und irgendwo in den Wolken schwebte, entging ihr nicht der Blick, den Pamela mit Sess wechselte. Sie tranken noch eine Tasse Tee miteinander, dann zogen die drei Frauen wieder hinaus und schrien Marcos Namen, bis ihre Kehlen wund waren und ihnen die Lungen brannten. Als sie heimkamen, ging Star nacheinander in jede der Blockhütten, weil sie dachte, sie hätten einander bei dem Schneefall vielleicht verfehlt, aber niemand hatte Marco gesehen, und als sie schließlich zum Versammlungsgebäude zurückkehrte, zum Duft des Essens und zu einem Schnaps, den ihr Bill anbot, um ihre Nerven zu beruhigen, da war er auch dort nicht.
All das machte ihr schon zu schaffen – diese Unruhe, die mit jedem Pochen des Herzens an ihr nagte, den Sturm in ein böses Omen verwandelte und ihr das Essen geschmacklos wie gekochte Pappe erscheinen ließ, so daß sie nicht mehr als zwei Bissen davon zu sich nahm und ihren Teller dem Hund hinschob –, aber was dann kam, war noch viel schlimmer. Es war eine Stunde nach dem Essen. Das Geschirr hatten sie im großen Waschtrog auf dem Ofen eingeweicht. Die Leute ließen Zigaretten herumgehen und natürlich den ewigen Joint. Alfredo hatte versucht, ein paar Lieder anzustimmen, aber es
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