Drop City
schien keiner so recht die Laune dafür zu haben, doch war es keineswegs die Sorge um Marco, die alle so niederdrückte, sondern einfach nur die Langeweile, das immer gleiche Essen, die altbekannten Gesichter, die ewige Nacht. Nichts passierte. Nichts würde je passieren. Und dieses Leben hatten sie sich ausgesucht. Freiwillig.
Norm lümmelte mit Premstar auf einem der unteren Betten herum, mit dem Rücken zur Wand, die Füße hinausgehängt. Er sah alt aus. Seine Haut war so bleich wie ein Fischbauch, und seine Haare, im Wassereimer gewaschen, fielen ihm schlaff und spärlich über die Ohren. Die niemals reparierte Brille sah aus, als hätte sie ihm jemand ins Gesicht geschleudert, und die schmutziggrauen Reste des Pflasters, das ihm Reba dafür gegeben hatte, hielten das Gestell in einem prekären Gleichgewicht. Er schniefte, sichtlich ein Opfer der Erkältung, die sich in Tröpfchenform durch das Kollektiv seiner Brüder und Schwestern schlich, die Augen rotgerändert und verquollen. Und außerdem juckte es ihn, nicht anders als die meisten andern. Norm der Pascha. Norm der Guru. Norm der Leitstern von Drop City.
Er schob sich mit einem Knurren hoch, und dabei erinnerte er Star an ihren Vater, der sich aus seinem Fernsehsessel rappelte, nachdem seine Mannschaft eine Niederlage erlitten hatte – hängende Schultern, leerer Blick, mit einer Hand fuhr er sich auf den Rücken, um irgendein Stechen im Kreuz zu lindern –, dann ging er quer durch den Raum und goß sich aus dem großen Krug auf dem Tisch ein Bier ein. Warum sie ihn beobachtete, wußte Star gar nicht. Sie saß etwas geistesabwesend bei einem Kartenspiel – Herzchen – mit Merry, Maya und Lydia, dabei streifte ihr Blick durch das Zimmer und war irgendwie an Norm hängengeblieben, so als wüßte sie, was nun gleich käme, als hätte sie eine Vorahnung, nicht nur im Hinblick auf Marco und Ronnie und das lange Abgleiten in die Nacht, sondern auch auf das Schicksal von Drop City selbst.
Norm warf den Kopf zurück und trank geräuschvoll aus der Tasse. »Was für ein Bier!« sagte er und unterdrückte ein Rülpsen. »Das ist das Beste hier oben, unsere größte Leistung – Tom Krishnas Bier. Wir sollten es auf Flaschen ziehen und verkaufen. ›Flatulenzius Export‹ könnten wir’s nennen. Wie klingt das?«
Niemand lachte. Aber er hatte erreicht, was er wollte: er besaß jetzt die Aufmerksamkeit des gesamten Raumes, alle sahen von Büchern, Spielen, Unterhaltungen auf – er führte etwas im Schilde, das spürte jeder.
»Wißt ihr«, sagte er, »wenn wir hier schon alle versammelt sind, oder fast alle, wenn wir mal von denen absehen, die irgendwelche Ressentiments und Gemeinheiten hegen, aber das dürfte ja etwa die Hälfte von uns sein, die Hälfte des Irrenhauses von Drop City ist total am Spinnen – ein schönes Zeugnis der Kraft von Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit.« Immer noch lachte kein Mensch. »Also, da die meisten von uns hier sind, möchte ich euch gern etwas verklickern, nämlich im Namen von Premstar und mir ...« Alle sahen zu Premstar hinüber, die wie eine Ikone dasaß, die Lippen zu erwartungsvollem Schmollen geschürzt, die Lider wie nackt, weil sie keinen Klebstoff mehr für ihre falschen Wimpern hatte und schon in den allerletzten Resten ihres pastellblauen Lidschattens kratzte. Premstar funkelte zurück. Sie war nicht ganz in ihrer Spielklasse, dachte sich Star, die Primadonna in einer Gemeinschaft von Gleichen, und es gab hier einfach keine Ausrede für sie, null, zero. Was die Leute hier anging, konnte sie den ganzen Abend lang schmollen.
»Laß mich raten«, sagte Bill. »Die Air Force plant eine Rettungsaktion mit Notabwurf von siebenundachtzig Tuben Entlausungsmittel hier draußen auf dem Fluß?«
»Plus sechs Farbfernseher, mit Antennen so lang wie das Empire State Building«, juchzte der irre George und stieß sein Bierglas in die Höhe, wie um einen Toast auszubringen. »Und alle alten Nummern des Playboy , die noch zu kriegen sind!«
Jetzt kicherten ein paar, es gab den einen oder anderen nervösen Lacher. Der Ofen seufzte. An den Fenstern tickte der Schnee. Merry sah von ihren Karten auf und wechselte einen langen Blick mit Star, als wollte sie sagen: Was jetzt?
Norm hatte kein Problem mit großem Publikum. Wie ein Schauspieler – er war ja der geborene Schauspieler – wirbelte er auf dem Hacken herum und warf die Arme hoch, wie um auch jene einzubeziehen, die über den roh gezimmerten Rand der
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