Drop City
hier als höchst vorübergehendes Arrangement, das war allen klar. Warum also sollte sie selbst leiden? Wozu sich in der undankbaren Rolle einer Mischung aus Braut und Waschweib plagen? Sie stand vom Bett auf und ging zu ihrem Rucksack.
Sie wühlte sich durch ihre Sommertops, die abgeschnittenen Jeans, Sandalen, ein Bündel Briefe, die sie eigentlich hatte abschicken wollen, Campingzeug, Bücher, Sonnenöl, drei, vier, fünf Paar saubere Socken, ihren Poncho, doch als sie zur Innentasche kam, ganz unten, tief drin, war da nichts. Es mußte ein Irrtum sein. Sie kippte den Rucksack auf dem Bett aus, durchsuchte jede einzelne Tasche, jedes Fach und jedes gefaltete Kleidungsstück, legte alles nebeneinander aus, so daß sie es sehen konnte, dabei dachte sie sich, sie würde einfach die achtzehn Kilometer bis nach Boynton zu Fuß gehen, dem Fluß folgen wie einem Highway, direkt ins Three Pup hineinmarschieren und einen der Buschpiloten dort bitten, sie gegen Bezahlung auszufliegen, Howard vielleicht – der würde das bestimmt tun, kein Problem. Sie konnte ihm einen Fünfziger anbieten und den Rest für ein Ticket ohne Rückflug nach Hause behalten – nicht nach Florida oder Hawaii, sondern nach Hause –, und sie sah schon vor sich, wie sie in die Lehne des Flugzeugsitzes sank, eine warme Mahlzeit vom Tablett aß, zivilisiertes Essen, und wie ihre Mutter in der Empfangshalle am JFK Airport stand, mit Sam und dem Hund und ihrem Vater, falls der sich hatte freinehmen können. Da mußte sie weinen. Sie konnte es nicht unterdrücken.
Lange Zeit saß sie einfach nur da und starrte auf das Muster ihrer Habseligkeiten, die auf dem Bett verstreut lagen. Dann ging sie noch einmal alles durch, sie schluchzte, wischte sich mit dem Ärmel über Nase und Augen. Schließlich stand sie auf und suchte das ganze Haus ab, sah auf jedes Regalbrett, blätterte sämtliche Taschenbücher durch, obwohl sie genau wußte, daß sie das Geld nicht irgendwo hingesteckt hatte – außer sie verlor den Verstand oder hatte sich in irgendeine andere Dimension hineingeträumt. Sie verfolgte ihre Schritte zurück. Durchsuchte nochmals den leeren Rucksack, und noch einmal, und schließlich schlitzte sie mit ihrem Federmesser das Futter der Tasche auf, doch was sie dann in der Hand hatte, war nur Nylon, marineblaues Nylon, made in Taiwan.
Das Geld hatte sich ja nicht in Luft aufgelöst, ihm waren keine Beine zum Davonlaufen gewachsen. Jemand hatte es gestohlen, das war die einzige Erklärung, irgendein Dieb, der die Nerven und die Zeit dazu gehabt hatte, ihr Gepäck hinter ihrem Rücken zu durchsuchen – Merry, Maya, Jiminy, Marco. Aber nein. Keinem von ihnen traute sie das zu, und außerdem hatte ja niemand gewußt, daß das Geld dort war – es war ihr Geheimnis, ihr Notgroschen. Sie war verzweifelt. Dies war das Ende von Brüder- und Schwesterlichkeit, so endete also alles. In Verrat. Selbstsucht. Gemeinheit. Und in Dieberei. Wie lange war das schon so gegangen? Und wann war es ausgebrochen? Ihr kam der Gedanke, daß jeder von ihnen ein geheimes Versteck haben müßte, sogar Marco, sogar Merry, deshalb war es ja nur logisch, daß jeder jeden verdächtigte und einer in des anderen Sachen stöberte – so nannte man das doch, stöbern ?
Noch einmal ging sie alles durch, schleuderte zerknüllte Socken, zusammengelegte Pullis und Krimis mit gebrochenem Rückeneinband über die Schulter, dabei beobachtete sie die Tür und lauschte auf Schritte, als könnte sie bei dem Getöse des Schneesturms welche hören, und sie war nur einen Herzschlag davon entfernt, in Jiminys Sachen zu stöbern , in Merrys und in Marcos, als ihr Ronnie einfiel. Er war allein in diesem Raum gewesen, mit Lydia, und wenn irgend jemand ihre Geheimnisse kannte, dann Ronnie, wenn irgendwer ihre privaten Sachen durchsucht hätte, wenn irgendwer auch nur daran denken würde, sie zu beklauen, sie zu belügen und zu betrügen, sie irgendwelchen Tipi-Freaks anzubieten wie eine Prostituierte und dabei die ganze Zeit das unschuldige Opfer zu spielen, dann war das Ronnie. Ronnie hatte ihr Geld. Ronnie.
Sie sah sich in dem verwüsteten Zimmer um. Es war wie ein Loch, wie ein Käfig. Verraucht, verstunken, überall Chaos und kein Entrinnen. Die Einzelteile des Ofenrohrs paßten nicht genau ineinander, die Windstöße stoben an Hunderten von Stellen durch die Isolierung zwischen den Baumstämmen, die Tür war der reinste Windkanal, egal, wie viele Schichten von Lumpen und Papier man auch in
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