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Drop City

Drop City

Titel: Drop City Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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einem Traum direkt in die Schleier des nächsten, aber er besaß die Geistesgegenwart, an den Hund zu denken. Das Tier war verletzt. Er hörte es winseln, ein feines, schabendes Geräusch, wie eine Geige, die in den obersten Tonlagen gestrichen wird. »Sess«, sagte er, »ich glaube, einen der Hunde hat’s erwischt.«
    Es war der Fuß oder das Bein – Marco konnte es im Wechsel von Mondlicht und Schatten nicht genau sehen. Er stand hilflos dabei, als Sess sich über den Hund beugte, ihn aus dem Geschirr löste, in die Arme nahm und zum Schlitten trug. Er sah zu, wie Sess ihn auf die Ladefläche legte, neben den hartgefrorenen Coyotenkadaver, und er sah zu, wie Sess die anderen Hunde neu gruppierte, wobei der Atem von Mensch und Hund als dichter Nebel in der Luft hing. Im Lauf dieser Geschehnisse ertönte irgendwann ein fernes Geräusch – wann genau, hätte Marco nicht sagen können, nach wenigen Sekunden oder gar Minuten –, und ein grelles Licht flackerte auf, vier bis fünf Kilometer entfernt. »Gut«, knurrte Sess, während er in der Kälte arbeitete, und jede Pause, jede Silbe war eine kleine Dampfmaschine in der Nacht, »gut, dieser Drecksack. Sehr gut. Ich hoffe nur, er ist tot und verkohlt jetzt.«
    Sie erreichten die Hütte in wenigen Minuten, und noch ein paar Minuten später vollzogen sie dasselbe Ritual wie am Vorabend – Hunde ausschirren und anleinen, Feuer machen, Kessel und den großen rußigen Topf auf den Ofen stellen –, doch sie sprachen kaum. Sie arbeiteten wie Katastrophenhelfer: methodisch, ungerührt, nur angeleitet von der Logik und dem Diktat des Augenblicks. Sess brachte den verletzten Hund herein – es war Sky, ein gehetzt blickendes blaues Auge, das andere gelassen und braun – und legte ihn im Licht der Laterne auf den Boden. Der Hund winselte leise, und Marco sah, daß seine rechte Vorderpfote weggeschossen war, zumindest die Zehen. Sess durchquerte den Raum und kam mit einem fadenscheinigen verblichenen Flanellhemd zurück, das er in Streifen riß. »Kann ich irgendwas tun?« fragte Marco, und Sess meinte, er könnte draußen die Hunde füttern, das wäre eine Hilfe.
    Erst nachdem sie gegessen hatten, verließ sie der Schock ein wenig, so daß sie allmählich darüber reden konnten. Der Hund war wieder draußen, sein Lauf mit einer verknoteten Bandage versehen, die er sich wahrscheinlich längst abgenagt hatte, und die Hütte – die primitiver und älter war als die, in der sie zuvor übernachtet hatten, sie stammte noch aus der Zeit, bevor die Flugzeuge die Herrschaft über das Land übernommen hatten – wurde endlich doch von der Wärme des Ofens erfüllt, der Kessel dampfte fröhlich, und sie starrten beide in den Kaffeesatz am Boden ihrer Becher. Marco stand auf und wärmte sich die Hände über dem Ofen. »Und du meinst, sie sind abgestürzt, ja?« fragte er.
    Sess blickte kurz auf. »Ja«, sagte er nur.
    »Und? Sind sie tot?«
    »Hoffentlich. Ich kann nur beten, daß sie’s sind. Denn wenn nicht, werde ich sie umbringen müssen.«
    »Ich spreche hier von ihnen «, sagte Marco, und er mußte einen seiner Handschuhe für den Kessel nehmen, um sich den brühendheißen Kaffee in den Becher zu gießen, »aber es könnte doch auch Bosky allein gewesen sein, stimmt’s?«
    Sess hielt ihm seinen Becher zum Nachfüllen hin. »Fliegen und Schießen zugleich geht nicht.«
    »Also war Ronnie auch da drin? Du glaubst, das war Ronnie?«
    »Dieser Scheißkerl«, sagte Sess. »Dieser Hippie-Scheißkerl. Der ist hoffentlich auch tot.«
    Nach einer Weile, ohne daß sie die Frage wirklich diskutiert oder auch nur gründlich durchdacht hätten, streiften sie ihre Sachen wieder über: die zwei Hemden, den Pullover, den Parka, den Schal (den von Marco hatte Star gestrickt), und Marco schnürte seine Stiefel zu, während Sess seine Mukluks überzog, und dann waren sie wieder draußen in der eisigen Nacht, minus vierundvierzig, Tendenz fallend. Die Hunde rührten sich kurz, einige stießen ein fragendes Kläffen aus, ehe sie sich wieder zur Ruhe legten. Sess hatte die Zweiundzwanziger in der Hand. Der Schnee gab unter ihren Schritten nach.
    Sie kehrten zu der Wiese zurück und wandten sich dann landeinwärts in die Richtung, die das Flugzeug genommen hatte, in ordentlichem Tempo, der Mond schien schräg durch die Bäume und erhellte ihnen den Weg. Das Unterholz war hier recht dicht, abseits des Pfades, aber sie hatten ein Ziel, deshalb bahnten sie sich ihren Weg, als marschierten sie durch

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