Drop City
einen langen Hotelkorridor mit einer Schwingtür nach der andern. Marco ließ seine Gedanken schweifen, er dachte an Star, an das bevorstehende Weihnachten und daran, was er ihr schenken sollte, in Anbetracht seiner knappen Mittel. Vielleicht könnte er ihr etwas basteln, dachte er. Irgend etwas für ihr Haar – eine Spange, aus Holz oder Knochen geschnitzt, oder vielleicht ein Paar Ohrringe aus Fischbein, etwas in der Art. Und dann mußte er an Ronnie denken. An Pan. Falls Pan in diesem Flugzeug gesessen hatte, und so mußte es gewesen sein, dann war Pan tot, er wäre das erste Opfer von Drop City. Die erste Beerdigung. Norm würde irgendwann zurückkommen. Vielleicht sogar der irre George, Verbie und ein paar von den anderen. Aber Pan kam nie wieder. Der Gedanke ließ ihn frösteln. Andererseits war ihm ohnehin kalt – es deprimierte ihn, hielt ihm die Seltsamkeit des gesamten Unternehmens vor Augen. Da stapfte er in Gesellschaft eines Mannes mit einem Gewehr auf irgendwelchen Hügeln herum, wie man sie entlegener auf diesem Planeten kaum finden konnte, und das in der finstersten Nacht, die er je erlebt hatte. Und wo war sein Vater jetzt? Oder die Einberufungsbehörde und der alte Sack von General dort?
»Da oben«, sagte Sess, und es klang wie körperlos, als würde die Landschaft selbst ihre Stimme zurückwerfen,die bauchredende Nacht. »Siehst du, da glüht etwas.«
Sie stiegen einen Hang hinauf und blickten auf das Licht hinab, das hier so fehl am Platze wirkte: ein Feuer, ein Lagerfeuer, das da auf dem numinosen Boden munter an seinen Fesseln zerrte, Farbe an einem farblosen Ort. Zwei Gestalten lagen um das Feuer, die eine dahingestreckt auf dem Schnee, die andere gegen einen Baum gelehnt und auf ein paar Fichtenzweige gebettet, und dahinter sah man zusammengesackt das ausgebrannte Flugzeug. Nichts bewegte sich außer dem Rad des Feuers, das aufflackerte und erstarb, seine Funken in den Himmel spie, loderte und glühte.
Marco nahm den Abhang im Laufschritt, stapfte durch den verwehten Schnee, zertrat krachend Äste und die schnappenden Zweige von Zwergweide, Erle, Birke und schwarzer Johannisbeere, achtlos rannte er dahin, gepackt von etwas, was er nicht hätte benennen können, und Sess Harder ging wachsam hinter ihm her, das Gewehr schußbereit. Als erstes ging Marco zu Ronnie, zu Pan, und versuchte ihn umzudrehen, aber Pan war am Boden festgefroren, in einem erstarrten Schwall aus Blut und Schleim, und er war völlig regungslos, tot, eindeutig tot, so steif und tot und starr wie der Coyote auf dem Schlitten. Er mochte Pan nicht. Hatte ihn nie gemocht. Aber das hier wünschte er ihm auch nicht.
Er blickte auf, als er Sess Harders handgenähte Mukluks aus Elchleder auf dem Schnee hörte, das leise Rascheln seiner Schritte. Sess stand inzwischen über Joe Bosky, und Joe Boskys Augen standen offen, er versuchte etwas zu sagen. An ihm war kein Blut zu sehen, kein Tropfen, sein weißer Parka war so sauber und makellos wie der Schnee. Seine Augen funkelten im Schein des Feuers, und er wollte sich bewegen, man konnte es sehen, wollte aufstehen, sich erheben und der Herausforderung begegnen, aber es gelang ihm nicht. Ein Ausdruck schoß Marco durch den Kopf, ein Begriff aus der Zeitung, aus den Todesanzeigen: innere Verletzungen .
Äußere Verletzungen waren hierzulande schlimm genug, aber bei inneren Schäden, die man nicht sehen konnte, gab es nur wenig Hoffnung. Sie müßten zurückgehen und den Schlitten holen, ihn aufladen und sich dann auf den weiten Weg vorbei an Drop City, Sess’Blockhaus, den Woodchopper Creek bis nach Boynton machen, von wo ihn irgend jemand ausfliegen und ins Krankenhaus nach Fairbanks bringen müßte, und das alles mit unklaren Verletzungen, eventuell geplatzten inneren Organen, durchtrenntem Rückenmark, im verborgenen leise sickerndem Blut. Doch Sess schob ihm statt dessen das Gewehr ins Gesicht, die Mündung ruhte genau auf Boskys Nasenrücken, der kalte Kuß des stählernen Laufs markierte die Stelle, wo sich die buschigen schwarzen Augenbrauen trafen, und Joe Bosky bemühte sich, etwas herauszubringen, seine letzten Worte, und was er dann sagte, auch als Sess Harder das Gewehr wieder wegnahm und auf seiner kantigen, mondbeschienenen Schulter abstützte, das war: »Fick dich doch selber.«
33
Zuerst wußte Star nicht, was sie sagen sollte, sie dachte an Che und Sunshine, an ihre plärrenden Gesichter und hemmungslos stampfenden Beine, an ihren Lärm, ihren Schmutz – sie
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