Drüberleben
Verhaltens, die doch auch schon in den vergangen Jahren auf Widerstand hatte stoßen müssen. Vielleicht, waren wir zu dem Schluss gekommen, war seine Unangepasstheit an diese Situation aber auch einfach nur eine Reaktion aus Abwehr und eigenem Widerstand gewesen, die ihn schützte. Wovor, das konnte man nur ahnen, wissen konnten wir es nicht. Und genauso wenig wussten wir, wie Weimers es geschafft haben mochte, der Leiter einer Gruppe zu werden, die eigentlich mit höchst sensibler Thematik umging, die eigentlich, so fanden wir, Schutz und Verständnis verdient hatte. Womit, das wussten wir auch nicht so genau, aber irgendwas hatten wir irgendwie verdient. Glaubten wir.
Ich ziehe den Zettel, auf dem die Liste steht, aus meiner Hosentasche und atme ein und atme aus. Dreimal füllen sich meine Lungen mit Sauerstoff, der schon in den Körpern der anderen Anwesenden gewesen sein muss, und stoßen ihn wieder aus. Dreimal atme ich Secondhand-Luft ein, die auch wie solche riecht, abgestanden und wenig nährend für meine Lungen, die eigentlich sofort zum Fenster rennen möchten, um zu atmen, reinen, sauberen Außenweltsauerstoff. Dann beginne ich zu lesen.
Zigaretten, Gin Tonic, Schnee, drei Decken, Buchseiten umknicken, Kaffee, die Postkarte aus Florenz, Rotwein, Weißwein, Schlaf.
Ausatmen. Den Zettel zusammenfalten, den Blick auf den Boden gerichtet lassen. Nichts sagen, nichts erklären, den Mund halten, die Haltung halten, die Stellung halten, abwarten.
» Danke, Ida. Gleiches Spiel wie immer: Wer möchte etwas zu Idas Liste sagen?«
Simon meldet sich als Erster. Natürlich. » Das ist doch keine Liste. Das sind bloß schöne Worte so aneinandergereiht, dass sie klingen, als hätten sie die Aufgabe erfüllt.«
» Und welche Aufgabe soll das deiner Meinung nach gewesen sein, Simon?«, fahre ich ihn an. » Ich habe vorgelesen, was ich schön finde und was mir hilft, nicht irre zu werden.«
» Hat ja super geklappt, Ida«, grinst er.
» Also ich fand die Liste auch ein bisschen seltsam. Das sind doch alles keine Dinge, die jemandem helfen«, sagt Nina jetzt.
» Ach, du meinst solche Dinge wie Erfolg, Selbstvertrauen, Selbstdisziplin und den ganzen Quatsch?«, fragt Walter und runzelt die Stirn.
» Ich dachte eigentlich, dass wir hier über das sprechen, was mir ganz persönlich hilft. Ich wusste nicht, dass wir jetzt neuerdings die Listen der anderen bewerten«, sage ich beleidigt und bereue schon, mich überhaupt darauf eingelassen zu haben, die Liste vorzulesen.
» Niemand beleidigt dich. Falls es das ist, was du meinst. Wir hinterfragen nur«, antwortet Peter, der mittlerweile wie Richard nur noch zu Gast in der Klinik ist und wöchentlich an der Depressionsgruppe und an der Ergotherapie teilnimmt.
» Wenn hinterfragen bewerten bedeutet, dann hinterfragt ihr gerade sehr genau. Falls nicht, dann ja, ich fühle mich persönlich angegriffen.«
Ich habe gelernt, über meine Gefühle zu sprechen. Ich habe gelernt zu sagen, wann mir etwas nicht gefällt. Immer in Ich-Aussagen, nie in Du-Vorwürfen. Ich habe gelernt, dass ich gewaltfrei kommunizieren soll, dass ich mich selbst so lange reflektiere, bis ich auch den letzten Rest Verstand verloren habe. Ich denke erst, bevor ich handle. Ich rede erst, bevor ich saufe. Ich versuche erst, bevor ich scheitere. Ich scheitere nicht, ich lerne bloß. Ich bin wertvoll, ich bin gut, ich bin so verdammt wichtig für diesen Planeten. Ich habe einen Wert. Und Selbstwert. Und Selbstvertrauen. Und Würde. Ich glaube an mich. Ich rette mich. Ich brauche keinen, der mich rettet. Ich rede über Gefühle, ich intellektualisiere nicht alles. Ich rede über Gefühle, nicht über meine Meinung. Ich rede über Gefühle. Ich rede über Gefühle. Ich bin nicht Ida, ich bin die Gefühle, die ich habe. Ich sage allen, wie es mir gerade geht. Ich sage nicht: » Ich hasse dich«, sondern » ich bin ärgerlich«. Nur noch Ich-Botschaften, am laufenden Meter, an laufenden 1,76 Metern, die sich um sich selbst kümmern sollen. Achtsamkeit. Aufmerksamkeit. Liebe. Es ist wunderschön. In dieser Welt, deren Konstrukt nur so lange besteht, wie die Baugerüste aus gut gemeinten Forderungen, Ratschlägen und scheinbaren Alternativen bestehen bleiben. Sobald sie entfernt und die Gerüste abgebaut sind und das Konstrukt der Welt ausgeliefert ist, bricht es in sich zusammen wie ein Haus ohne Wände, ein Gebäude aus Pappmaschee.
Weimers nimmt den Faden wieder auf: » Bleiben wir doch einfach mal bei
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