Druidenherz
Imogen die Tür auf und trat ans Waschbecken, um in den Spiegel zu sehen. In ihrem Gesicht zeigten sich keinerlei Veränderungen. Sie sah aus wie Anfang bis Mitte zwanzig. Was sie ja auch war – was sie sein sollte.
Und wenn es nun stimmte? Wenn sie sich wirklich im Jahr 2034 befand? Und Tante Mable tot war, verstorben vor über fünf Jahren, ganz allein, ohne dass sie bei ihr gewesen war, ohne eine Chance, sich von ihr zu verabschieden? Imogen schluchzte auf. Dann rief sie sich zur Ordnung, wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser und stahl sich aus dem Polizeigebäude. Hier würde man ihr nicht weiterhelfen können; vielmehr würden die Beamten sie wohl für verrückt halten.
Ziellos lief sie durch die Einkaufspassage, bis sie schließlich eine Bibliothek fand. Wie erhofft gab es dort öffentliche Computer. Imogen nahm vor einem der Rechner Platz und machte sich an die Recherche.
Es dauerte eine Weile, aber dann fand sie einen Eintrag über sich selbst, in der Glasgower Tageszeitung. »Fünfundzwanzigjährige Touristin vermisst«, lautete die Überschrift. Der Artikel war nur wenige Zeilen lang, beschrieb, dass sie nicht ins Hotel zurückgekehrt und eine polizeiliche Fahndung erfolglos verlaufen war.
Imogen stieß auf drei weitere Artikel, alle wenige Monate bis fünf Jahre nach ihrem Verschwinden erschienen. Im jüngsten Eintrag stand, dass angenommen wurde, dass sie tot sei, umgekommen in den Highlands, vermutlich durch einen Unfall, da es keine Hinweise auf ein Verbrechen gab.
Ohne viel Hoffnung klickte sich Imogen durch, bis sie das Haus ihrer Tante, ihr eigenes Zuhause, fand. Es war in den Besitz der Bank übergegangen, da Tante Mable keine Erben hatte.
Imogen konnte es kaum fassen. Innerhalb weniger Stunden war ihr gesamtes Leben auf den Kopf gestellt worden. Sie hatte keine Angehörigen mehr, kein Zuhause und kein Geld – und wie es aussah, hielt man sie ohnehin längst für tot.
»Geht es Ihnen nicht gut?«
Imogen sah auf. Eine Frau in mittleren Jahren hatte sich besorgt zu ihr herabgebeugt. An ihrer Bluse klemmte ein Schildchen mit dem Namen der Bibliothek.
»Alles in Ordnung«, versicherte Imogen, schloss die Seite und stand auf. »Ich hatte nur über ein Haus recherchiert, in dem ich mal gewohnt habe.«
Die Frau nickte verständnisvoll. »Das sollte man lieber lassen. Ich bin auch immer traurig, wenn ich an meinem Elternhaus vorbeifahre und sehe, dass es seit Jahren leer steht und bald abgerissen wird.«
Immer noch wie betäubt verließ Imogen die Bücherei und lief weiter, aus der Stadt hinaus und zurück in die Highlands. Die Sonne ging bereits unter, aber es würde noch mindestens zwei Stunden hell sein.
Sie musste Dian finden. Vielleicht konnte er sie in ihre Zeit zurückbringen – in ihre richtige Zeit. Wenn es überhaupt jemand vermochte, dann er.
Aber wie sollte sie ihn finden? Es gab keine Anhaltspunkte, wo er sich aufhielt. Und dann diese seltsamen Ein-und Ausgänge von Annwn. Den ersten hatte sie zufällig gefunden, und den, durch den Dian sie zurückgebracht hatte, würde sie nicht erkennen. Nachdem sich der Nebel verzogen hatte, hatte der Hügel gewirkt wie jeder andere.
Ziellos lief sie über die Hügel und ließ sich schließlich erschöpft ins Gras sinken. Die Beine taten ihr weh, sie war nicht daran gewöhnt, so weite Strecken zu Fuß zurückzulegen.
Fröstelnd rieb sie sich über die Arme und zwang sich, aufzustehen und weiterzugehen. Der Abend war frisch, und das Licht schwand mehr und mehr. Zwar gab es in den Highlands keine gefährlichen Raubtiere – jedenfalls hatte es vor über zweiundzwanzig Jahren keine gegeben –, aber sie eigneten sich dennoch nicht, um schutzlos die Nacht auf einem Hügel zu verbringen. Kühler Wind kam auf und trug feinen Nieselregen heran.
Zu ihrer Erleichterung entdeckte Imogen eine Schäferhütte. Zumindest die gab es noch, auch wenn sie bisher keine einzige Herde gesehen hatte. Sie schlüpfte in die Hütte, entdeckte im Schrank ein Päckchen Streichhölzer sowie mehrere Kerzen und zündete eine davon an.
Es gab ein Strohlager mit einigen Wolldecken, einen dreibeinigen Holzhocker, einen niedrigen Tisch und den Schrank. Darin befanden sich zwei Päckchen eingeschweißtes Brot, ein Glas Pflaumenmus, Salzgebäck und drei Dosen Ravioli, dazu mehrere Flaschen Mineralwasser und Limonade. Nicht gerade luxuriös, aber für eine Nacht in Ordnung.
Imogen trank von dem Mineralwasser und entschied sich nach kurzem Zögern für das Salzgebäck.
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