Druidenherz
besten, sie versuchte, ihn ganz normal zu behandeln. Schließlich konnte er ja nichts dafür, dass er kleinwüchsig war. Und was die Ohren anging, so war er bestimmt an staunende Blicke von Fremden gewöhnt, hatte sie im Grunde selbst provoziert, als er sich die Ohren so machen ließ. Dennoch empfand sie Mitleid. Wie konnte ein Mensch nur so verzweifelt sein, dass er sich zu einem solch radikalen Schritt entschloss?
»Schlaf«, erklang Dians Stimme wie ein Befehl dicht an ihrem Ohr.
Zu ihrer eigenen Überraschung fühlte sie, wie sie augenblicklich müde wurde. Zufall? Natürlich, was sonst! Dass jemand einen anderen Menschen durch ein einziges Wort in Schlaf versetzen konnte, fiel ebenfalls in das zweifelhafte Repertoire von Jahrmarktskünstlern. Dass sie darauf reagierte, lag einzig daran, dass sie sich immer noch so krank und erschöpft fühlte. Möglicherweise hatte sie ja entsprechende Medikamente bekommen. Sie erinnerte sich daran, dass jemand – Dian vermutlich – ihr einen Becher mit Flüssigkeit an die Lippen gehalten hatte, sogar mehrfach. Und es war nicht nur das langweilig schmeckende Wasser gewesen. Immer war er da gewesen, wenn sie für einen kurzen Moment aus diesem seltsam tiefen Schlaf aufgetaucht war.
Vage registrierte sie, dass Dian sie sanft auf die Liege zurückdrückte, ihren Kopf stützte und so nah bei ihr blieb, dass sie die Hitze seines starken Körpers spüren konnte.
Dian – bei dem Namen fiel ihr nun die Sage von Dian Cecht ein, einer Gestalt der keltischen Mythologie. Er wurde als Heiler verehrt, weil er über erstaunliche Fähigkeiten in der Heilkunst verfügte und Nuada, dem König der Túatha Dé Danann, die im Kampf abgeschlagene Hand durch eine Hand aus Silber ersetzte. Und als Midir, ein Reisender zwischen der Welt der Sidhe und der Sterblichen, ein Auge verlor, ersetzte Dian Cecht ihm auch das mit seinen göttlichen Fähigkeiten. Es schien nichts zu geben, was zu schwierig für ihn war. Kein Wunder, schrieb man ihm doch überirdische Kräfte zu.
Außerdem war er zusammen mit seiner Tochter Airmed Hüter der tipra sláine , der Quelle des Lebens. In dieses besondere Wasser tauchte er verwundete Krieger, um sie zu heilen oder zum Leben zu erwecken. Doch die Quelle wurde von einem Sohn des Fomorekönigs zugeschüttet. Die Fomore waren schreckliche Dämonen, die gegen Dian Cecht und alle anderen Wesen kämpften und dabei vor nichts zurückschreckten.
Es gab aber auch Sagen über Dian Cecht, in denen er nicht als der gute, gottgleiche Heiler dargestellt wurde, sondern niederträchtig und gnadenlos handelte. Aus Eifersucht hatte er sogar den eigenen Sohn getötet, als dieser ihn übertrumpfte, indem er dem verletzten König anstelle des Silberglieds eine echte Hand wachsen ließ. Dian Cecht hatte es nicht ertragen können, dass sein Sohn größeren Ruhm errang als er selbst. Er hatte keine Gnade gegenüber seinen Kindern gekannt und auch nicht auf das Flehen seiner Tochter gehört, die ihn bat, den geliebten Bruder zu verschonen.
Imogen schauderte und rief sich das Bild ihres Dian ins Gedächtnis. Nein, dieser Mann sah nicht aus wie ein Mörder. Und zudem doch deutlich zu jung, um erwachsene Männer als Söhne haben zu können. Er konnte höchstens Anfang dreißig sein.
Und außerdem ist das bloß eine alte Sage, rief sich Imogen selbst zur Ordnung. Es war auch nicht jeder Jona schon mal im Bauch eines Wals gewesen. Und nicht jede Mary, die Mutter war, hatte ihr Kind als Jungfrau empfangen. Der Gedanke hätte sie beinahe laut auflachen lassen.
Sie spürte, wie die Müdigkeit wieder stärker von ihr Besitz ergriff und ihre Gedanken vernebelte. Ohne sich noch länger zu wehren, ließ sie sich in den Schlaf hinübergleiten. Sie konnte später weiter über Dian nachdenken. Wenn es ein Später für sie gab.
Als er sicher war, dass Imogen tief und fest schlief, löste sich Dian vorsichtig von ihr und legte einen Bann über den Raum, damit während seiner Abwesenheit niemand außer Gwyd zu ihr gelangen konnte. Dann machte sich Dian auf, um die Eingänge nach Annwn zu erkunden; zumindest jene, die in der Nähe lagen. Schließlich musste Imogen durch einen davon in die Anderswelt geraten sein, und von Beathan und Carney konnte er sich keine Hilfe erhoffen. Der Halbgeist war zu feige und der Krieger zu sehr von sich überzeugt, weshalb Dian entschied, selbst nach der Ursache zu suchen.
Er fand die Stelle, an der Imogen gebissen worden war. Ihr Blut war in den festgetretenen Boden
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