Dryadenliebe (Die Saga vom Waldvolk) (German Edition)
war man besser vorbereitet. Es würde
komisch sein, einen dreizehnjährigen als Freund zu haben, aber
Mittsommer war nicht weit, bald war er schon vierzehn. Und hier
in Tallyn wusste sowieso jeder, dass Mathys viel weiter war- seine
Erinnerungen waren gewiss nicht die eines Dreizehnjährigen. Sie
würden das schon überstehen.
Es klopfte.
"Bist du so weit?" fragte ein helles Stimmchen.
"Komm herein", sagte Julie.
Tari trat in ihre Kammer. Sie sah noch immer aus wie eine
Fünfjährige und erinnerte Julie in ihrer Verzweiflung sehr an
Fanea damals, wenn sie auch nicht ganz so schlecht dran war wie
die Tochter der Fürstin. Heute war Fanea eine bildhübsche
Dreizehnjährige, hochgewachsen wie ihre Mutter, von allen
respektiert. Obgleich Julie damals in ihrer Rede vor Nereide nur
erreichen wollte, dass diese Fanea endlich wachsen ließ, hatte sie
mit ihrer logischen Argumentation auch recht gehabt: Faneas
Verhältnis zu ihren Untertanen war deutlich besser, seit sie
körperlich auf niemanden mehr angewiesen war.
Julie wünschte sich oft, für Tari das gleiche tun zu können;
sie wusste wie sehr ihre kleine Freundin unter ihrem Aussehen
litt, aber Ria war im Gegensatz zu Nereide mit logischen
Argumenten nicht beizukommen.
Julie seufzte.
"Was ist denn, geht es dir nicht gut?" fragte Tari besorgt.
Das war typisch Tari. Immer zuallererst in Gedanken bei
anderen.
"Doch, doch, nur ein bisschen nervös", beschwichtigte Julie.
Sie nahm ihren gepackten Beutel und fasste noch einmal an
das Amulett der Hoffnung, dessen Band inzwischen schon
verschlissen war. Sie mochte es nicht austauschen, weil sie nicht
sicher war ob die Wirkung allein vom Anhänger oder von der
gesamten Kette ausging. Es hatte ihr unbestritten in den letzten
vier Jahren viel Kraft gegeben, um die Zeit bis heute zu
überstehen.
"Alles klar, wir können los."
*
Julie stand mit den anderen im Kreis, ihr zitterten die Knie.
Mathys war noch nicht da, aber der gesamte Rat war anwesend,
sogar der Merlin. Ihr wäre es lieber gewesen Mathys allein zu
treffen, aber das Protokoll sah mit Absicht so viele Zeugen vor. Es
ging um eine wichtige Entscheidung. Wenn er sich erinnerte,
wurde einer Mutter der Sohn weggenommen- bei aller Vorfreude
taten Julie die beiden Sicca auch irgendwie leid. Andererseits
waren auch Mathys richtige Eltern anwesend, und beide waren
mindestens genauso blass wie Julie vorhin. Bei allem Mitgefühl:
es war schon richtig so; sie und die Sanders vom Sägewerk hatten
nun einmal die älteren Rechte. Vielleicht würde er die beiden ja
mal besuchen.
Wo blieben die denn nur? Julie Handflächen wurden feucht.
Sie suchte Taris Blick; die lächelte aufmunternd.
Endlich war das Rumpeln eines nahenden Fuhrwerkes zu
hören; sie strich sich noch einmal über das Haar, lächelte dem
Karren entgegen.
Und da saß er, in der Mitte zwischen ihnen; es verschlug ihr
den Atem.
Gewachsen war er seit der Nacht vor der Hütte, und er sah
dem Mathys, den sie kannte, noch hundertmal ähnlicher als vor
vier Jahren.
Die Sicca stiegen vom Bock, Mathys tat es ihnen nach.
"Meike und Faller Bant, tretet mit Jan-Mathys in den Kreis,
damit wir sehen können, ob er sich erinnert", sagte der Merlin
freundlich.
Auf einmal war er ganz nah, sah sie an. Reichte ihr die
Hand.
Sie schloss ihre Finger um die seinen. Schwielen waren an
seinen Händen, die hatte er früher nicht gehabt, aber sein
Händedruck war der Gleiche. Warm und tröstlich. Am liebsten
hätte sie sich hier vor allen Augen in seine Arm geworfen und an
seiner Schulter geweint, bis aller Schmerz und alle Verzweiflung
vergessen war.
Beinahe hätte sie den Satz, den er sagte, überhört.
"Es tut mir leid. Ich kenne sie nicht."
"Sieh genau hin", befahl der Merlin.
"Wirklich. Ich kenne sie nicht. Nicht so“- er schaute zu
Chris- „wie er es gesagt hat. Vielleicht habe ich sie einmal
gesehen, aber ansonsten erinnere ich mich nicht an sie."
Der Boden tat sich auf. Eine eiskalte Hand griff nach Julies
Herz, sie bekam kaum noch Luft, als sei sie im Winter in den
Fluss gefallen. Dann wurde es dunkel.
*
"Julie. Julie!"
"Was ist denn?"
Sie schlug die Augen auf.
"Geht es wieder?" fragte Tari.
Fassungslosigkeit ließ ihr Innerstes bersten. Sie fing an zu
schluchzen. "Wo ist er?" fragte Julie.
„Nach Hause gefahren", sagte Anouk.
"Nach Hause? Er ist hier zuhause. Oder vielleicht im
Sägewerk. Aber doch nicht da, bei diesen vertrockneten…"
"Julie, beruhige dich."
Der Merlin.
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