Dryadenliebe (Die Saga vom Waldvolk) (German Edition)
Bis auf das Haupthaar war
der Junge völlig unbehaart, soweit er sehen konnte. Höchstens ein
ganz zarter Flaum auf den hohen Wangenknochen und der
schmalen Stirn. Die Nase war etwas breit, aber sie passte zu ihm;
zu dem großen roten Mund mit den herrlich weißen Zähnen hätte
eine kleinere Nase auch einfach lächerlich ausgesehen. Das Feuer
wärmte inzwischen ordentlich, ihm wurde heiß in seinem Fell. Er
rückte von den Flammen ab und tauchte das Tuch noch einmal
ein, strich damit über das sanfte Pochen an Ronans Hals.
"Was bitte sollte das denn?"
Die Augen weit aufgerissen, starrte der Junge Leo an, dem
vor Schreck der nasse Lappen in den Dreck gefallen war. Er hob
die Hände.
"Tut mir leid, du kannst nicht erwarten, dass ich mich
einfach wehrlos fressen lasse."
"Dich- was? Spinnst du?" Er zerrte an den Stricken. "Mach
mich los, das gibt es ja wohl nicht, so ein undankbares
Fellbündel…"
Fellbündel? Leo nahm die Fäuste vor die Brust und boxte
dicht vor Ronans Nase in die Luft.
"Du, sei vorsichtig was du sagst, ich hab´ dich schon einmal
umgehauen, ich kann es wieder tun!"
"Du Feigling, hinterrücks angefallen hast du mich, bind
mich los, dann zeige ich dir wer…"
"Hinterrücks? Das musst du gerade sagen. Wer hat mich als
Vorrat in seine Höhle geschleppt, wer hat mein Pferd entführt,
hm? Du bist der Wolf!"
Ronan hörte auf gegen die Seile anzustrampeln. Er sah Leo
an und kleine goldene Funken tanzten in seinen Augen.
"Du hast echt gedacht, ich würde dich fressen?"
Leo nickte. "Wolltest du nicht?"
Ronan schüttelte den Kopf.
"Aber es tut gut, dass du mich für gefährlich hältst. Im
ganzen Wolfsschrund bist du wahrscheinlich der Einzige, dem es
so geht." Er runzelte die Stirn und die kleine Beule auf seiner
Wange verriet, dass er sich mit der Zunge über die Zähne tastete.
"Ich hab´ mir voll auf die Zunge gebissen, glaub ich."
Leo beugte sich vor.
"Zeig mal."
Ronan öffnete den Mund und schob die Zunge ein Stück
vor.
"Autsch", sagte Leo und zog schuldbewusst die Schultern
hoch. Die blassrosa Zunge war an einer Stelle dick und rot
geschwollen, ein einzelner Blutstropfen löste sich und hinterließ
eine boshafte Spur auf einem der makellos weißen Zähne. Ronan
klappte den Mund wieder zu, dann sagte er:
"Du hast ´nen ganz schönen Schlag am Leib, genau wie dein
Pferd."
"Blau?" Leo starrte ihn an, wieder misstrauisch. "Was hast
du mit ihm gemacht?"
"Heißt der echt Blau ? Wahnsinnsname. Ich wollte ihn zur
Höhle führen, damit mein Rudel nicht aus Versehen…- egal,
jedenfalls wollte er nicht mit und hat mich getreten. Erst als ich
dich zur Höhle geschleppt habe, ist er hinterhergekommen. Hätte
ich mal gleich machen sollen, dann würde mir nicht jeder einzelne
Knochen im Leib weh tun."
"Du hast Blau vor ihnen gerettet?" Leo schluckte. Der
Gedanke daran, dass nicht er selbst, sondern ein anderer seinen
Hengst beschützt hatte, schmerzte.
"Ich bin dir unendlich dankbar. Kann ich etwas für dich
tun?" fragte Leo.
Ronan lächelte. "Fürs Erste könntest du mich einmal
losbinden."
*
Die Luft in der Höhle schien abzukühlen. Leo war sich nicht
sicher. In was? In Allem! Konnte er dem Wolfsjungen vertrauen?
War das nur ein Trick? Er hatte von der Magie der Wölfe gehört,
oh ja. Sie machte einen Menschen- und wohl auch einen Gagerverrückt. Wild, animalisch, bestialisch, wer einmal zwischen ihre
Lefzen geriet, den ließen sie nicht mehr los, so erzählten es sich
die Alten am Lagerfeuer. An jede dieser Erzählungen aus seiner
Kindheit erinnerte er sich. Sie hassten alle anderen Wesen,
betrachteten sie im besten Fall als Nahrung. Wölfe benutzten
dunkle Magie. Wölfe fraßen Pferde.
Er schluckte und band Ronan los.
In einem einzigen Augenblick verwandelte sich der Junge in
einen riesigen Wolf und sprang ihn an.
Wolfszeit
Leo wurde von der Wucht des Aufpralls mitgerissen. Hart
landete er auf dem Rücken, so hart, dass ihm die Luft wegblieb.
Der Wolf war direkt über ihm, sein bestialischer Atem
schlug Leo ins Gesicht und machte ihn würgen. Er versuchte, sich
auf die Seite zu drehen, aber der Wolf hatte seine Pfoten auf Leos
Schultern gestützt und lehnte mit seinem ganzen Gewicht auf
ihm, machte jede Bewegung des Rumpfes unmöglich. Leo zog
zumindest das Kinn auf die Brust, um seinen Hals zu schützen.
Kleine Fetzen aus seiner Kindheit trieben an Leo vorbei,
wirbelten wie in einem Sturm, so dass er sie nicht zu fassen
bekam. Sein erster Blick auf Blau,
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