Dryadenmacht (Dryaden-Saga) (German Edition)
wollte.
Aber in Wirklichkeit war das nicht der Punkt. Leo wusste tief in seinem Inneren, was das Kästchen enthielt.
S obald er es aufmachte, würde sein und Ronans Glück für immer zerstört sein. Endlich kamen die Tränen, und Leo presste sich so fest an Ronan, als wolle er ihn nie mehr loslassen.
Es war der erste Morgen in diesem Sommer, an dem die Sonne nicht ihre Strahlen in die Höhle schickte. Leo kraulte Ronan, der sich dann nachts im Schlaf doch noch verwandelt hatte, kurz den Pelz. Ronans Wärme brachte ihn gleich wieder zum Weinen. Wie sollte er jemals jemand anderen lieben? Und dann auch noch ein Mädchen!
Nein, er konnte das nicht tun. Er würde das Kästchen öffnen und danach eine Nachricht nach Gagrein schicken. Sollte doch sein Bruder herrschen, wen kümmerte das?
Leise, um Ronan nicht zu wecken, tapste er zu dem Kästchen und zog es auf den Schoß. Behutsam öffnete er den Deckel, es war albern, aber es fühlte sich an als würde ihm etwas entgegen springen, wenn er die Kiste zu schnell öffnete. Sobald der Deckel weit offen stand und er den Inhalt erblickte, wurde ihm zweierlei klar:
Das mit seinen Eltern war kein Irrtum. Und eine Nachricht zu schicken reichte nicht, er musste persönlich nach Gagrein. Mit der Erkenntnis kam die Trauer.
Weniger um die Mutter, die ihn mit der Peitsche in der Hand von seiner Staffelei vertrieben hatte, auch nicht um den Vater, der immer versucht hatte ihn in seine Fußstapfen zu pressen, aber um die Mutter, die ihm die erste Möhre gebracht hatte, als er entwöhnt war. Und um den Vater, der seine kleine Faust um eine feine Strähne aus der Mähne seines Pferdes gelegt hatte, welches damals noch ein Fohlen gewesen war und sie beide so für immer verbunden hatte. Er hatte seine Eltern verloren. Nun stand keiner mehr zwischen ihm und dem Tod. Er war der nächste in der Reihe.
„Noch immer keinen Hunger?“ fragte Ronan.
Leo nickte nur und hielt ihm die Schale hin.
„Hier, iss du, wär´ doch total schade drum.“
Ronan hatte ihm heute morgen die Möhren erst in Scheiben geschnitten und dann kleine Pferdeköpfe und Hufeisen da raus geschnitzt, wie er es sonst nur an seinem Geburtstag tat. Heiliger Zipsel, er konnte diesen Mann nicht verlassen, der Verlust würde ihn umbringen.
„Du hast es inzwischen geöffnet.“ Ronan fragte nicht, er kannte die Antwort. Das Kästchen stand nicht mehr genau am gleichen Platz und der Wolfsmann hatte ein gutes Auge für Details.
„Ja.“
„Was war drin?“
„Sieh selbst nach.“
Ronan vergewisserte sich noch einmal mit einem Blick, ob Leo das Angebot ernst meinte. Leo nickte ihm zu und Ronan hob den Deckel.
Vie l war nicht in der Kiste. Zwei Strähnen, beide, wie Leo wusste und Ronan sicher roch, von Pferden. Den Pferden seiner Eltern. Eigentlich gehörten die Strähnen geflochten, zusammengeflochten mit jeweils zwei Haarsträhnen des toten Gagers, der das Pferd zurückließ. Doch die Strähnen waren nicht verflochten, denn man hatte die Leichen nicht gefunden.
Daneben ein Ring, der Häuptlingsring. Kein Gagerhäup tling hatte ihn je an normalen Tagen getragen, denn der dicke Klunker war beim Füttern, Striegeln und Fohlen auf die Welt bringen mehr als hinderlich, aber zu offiziellen Anlässen war dieser Ring das Zeichen der Macht über ganz Gagrein. Wer ihn trug, bestimmte über Leben und Tod.
Und jetzt gehörte der Ring ihm.
Ein Dokument war noch darunter, schlicht wie ein Stammbaum. Todestag seiner Eltern, Mitteilung seiner Thronfolge. Aufforderung nach Hause zu kommen und sein Amt anzutreten.
Ronan las das Dokument und wurde blass.
„Daran habe ich nicht gedacht“, flüsterte er.
„Ich denke seit dem Auftauchen des Boten an ni chts anderes mehr“, sagte Leo.
„Was bedeutet das für uns?“
Leo spielte mit einem der Möhrenpferdeköpfe, die Ronan nicht mehr angerührt hatte. Offensichtlich war ihm nun auch der Appetit vergangen. Schade um die Arbeit. Er würde sie gleich Blau bringe n, warum sollte der nicht auch mal etwas Besonderes bekommen?
Er ließ sich Zeit mit der Antwort.
Schließlich sagte er:
„Das bedeutet, dass ich in Zukunft an einem Ort leben muss, an dem alle nichts mehr hassen als Wölfe. “
Ronan sah ihn an, in einem Augenblick die Wangen knallrot, die Augen nass vor Tränen, im nächsten ein Wolf mit angelegten Ohren, der in einem Satz so knapp über Leo hinwegsetzte, dass er ihn beinahe gestreift hätte. Die einsetzende Stille war das schlimmste Geräusch, das Leo je
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