Dryadenzauber (Die Saga vom Waldvolk) (German Edition)
versammelten Trauergemeinde. „Ihr werdet zur Auswahl zugelassen, sobald ihr euch jeder das Amulett der Dryade beschafft habt. Und ihr, liebe Trauernden, seht Billes Tod als das, was er ist, ein Opfer an die Möglichkeit, das Überleben aller zu sichern.“
Anouk ging nach diesen Worten mit wehendem Kleid davon. Die Einwohner Tallyns standen noch lange um das Grab herum, keiner wollte glauben, dass Billes Leben einfach so geendet haben sollte. Doch nach einiger Zeit lösten sich erst Einzelne und danach kleine Grüppchen aus der Menge und gingen ihres Weges. Die Einzige, die am Grab blieb und weinte, war Swantje.
Es war kaum Zeit zum Nachdenken, die Mittsommernacht rückte näher. In zwei Tagen sollte die Auswahl schon stattfinden, und so war es nicht verwunderlich, dass emsiges Treiben herrschte. Julie war es nur Recht; je weniger sie nachdenken musste, desto besser. Vor dem Besuch bei der Dryade Dendra, die die Hüterin der Amulettschlüssel für den Raum des Schicksals war, gab es noch viele Dinge zu erledigen. Gerade nach dem Abendessen hatte ein Bursche mit einer hölzernen, beschlagenen Truhe vor dem Zelteingang gestanden. In der mit Samt gefütterten Truhe hatte Julie eine lange Liste auf uraltem Pergament gefunden, auf der stand, was zu tun war. Der riesige, kunstvoll gemalte Anfangsbuchstabe verriet, dass das Papier älter war, als Julie zuerst gedacht hatte. Mit gerunzelter Stirn las sie die Anweisungen.
„Das Amulett der Dryade
zu erringen, seyd ehrlich und tapfer. Bereitet euch im Bade vor und gewandet euch sorgfältig, denn Nachlässigkeit verärgert die Dryade, desgleichen Hoffahrt und Eitelkeit. Wohlgefallen findet die Dryade an Ritterlichkeit und Schlichtheit. Auch ein Kniff soll euch erlaubet sein, so ihr denn regelrecht bleibet. Des magischen Ortes Leut schauen
gespannt auf euer Thun.
Wohlan, bevor ich es vergesse: Gott mit euch!
Der Schreyber“
Julie war ein bisschen verwirrt. Der Schreiber drückte sich nicht gerade sonnenklar aus, und die altertümliche Sprache tat das ihre. Mathys und Daan kamen von ihren spät-abendlichen Schwertkampf-Übungen. Julie reichte den beiden das Pergament. Kopf an Kopf, der eine glatt, der andere lockig, lasen die Gefährten die Anweisungen.
„Na“, sagte Mathys, „da ist ja nun nichts wirklich Hilfreiches dabei. Dass Dryaden keine Schmutzfinken mögen, weiß doch jeder. Und eingebildet sind wir jedenfalls nicht.“
Nun dachten alle drei das Gleiche: Wenn die Anweisung wörtlich gemeint war, hatten ihre Widersacher um das Amt der Hüterin ein Problem … Julie kicherte.
Daan war wie immer vernünftig. „Lasst uns schlafen gehen, morgen wird es sicher anstrengend.“
Julie gähnte. Sie hatte nichts dagegen, endlich ins Bett zu kommen. Auch Mathys erhob sich sofort. „Ohne das Amulett sind wir draußen, ich denke, ich gehe auch lieber schlafen, gute Nacht!“, verabschiedete er sich.
Kurze Zeit später lagen alle drei selig schlummernd in den kühlen Decken und träumten davon, die Welt zu retten – jeder auf seine Weise …
Der nächste Morgen war nicht so hektisch wie die frühen Stunden der früheren Wettkampftage es gewesen waren. Es waren ja nur noch Swantje und Julie als Anwärterinnen übrig, und so war das Lager auf sechs Jugendliche zusammengeschrumpft. Es gab für Julie weder Warten vor dem Abtritt, noch Konkurrenten um das heiße Bad; offensichtlich nahmen Tonia und Swantje die alten Anweisungen wirklich nicht so wörtlich.
Mathys wartete in der Sonne auf der kleinen Steinmauer vor der Waschküche, bis Daan den Badezuber freigab. Ein geckoähnliches Wesen huschte über die Mauer und suchte sich einen sonnigen Platz, denn es war noch früh am Morgen und kalt im Schatten. Mathys hatte ein Bündel mit frischer Kleidung neben sich, alles in Grün, denn er hatte gehört, dass das die Lieblingsfarbe der Dryaden war. Endlich kam Daan aus dem Bad. Mathys löste ihn ab; Julie verpasste Mathys knapp.
„Daan!“, sagte Julie. „Hast du einen Moment zum Reden?“
„Hmm“, sagte der Elf.
„Ich möchte nicht unhöflich sein, aber gibt es etwas, dass dich bedrückt? Du siehst manchmal so traurig aus, besonders wenn es um die Briefe“, sie deutete auf das Hemd des Elfen, „geht.“
Auf Daans Gesicht war der Kampf zwischen seiner Verschlossenheit und dem Drang, sich endlich jemandem mitzuteilen, deutlich zu sehen. Dann begann er: „Weißt du, mein Vater …“ In diesem Moment stürmte ein Kind auf die beiden zu: „Wenn ihr
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