Dryadenzauber (Die Saga vom Waldvolk) (German Edition)
Schnell ließ Julie den Mückenvorhang herunter, denn dass sie heulte, musste ja nun wirklich keiner sehen.
„Julie, bist du fertig?“, rief Mathys durch die wolkige Baumwollgaze der Ungeziefer-Barriere.
„Ich komme“, gab sie zurück. Schnell band sie sich noch ein eng anliegendes schwarzes Samtband um den Hals, das mit einem silbernen Anhänger versehen war, er war geformt wie eine Sonne und mit glitzernden blauen Steinen besetzt. In der Truhe befand sich auch ein Schmuckfach; Julie hatte vorhin schon bedauert dass sie nichts besaß, um das Fach zu nutzen. Zusammen mit den Kleidern war jedoch auch immer ein passendes Schmuckstück aufgetaucht, und entsprechende Lederschuhe in ihrer Größe waren ebenfalls erschienen. Julie band ihren Samtgürtel vom Vormittag wieder um. Das Kreuz ließ sie in der Tasche des Gürtels – sicher war sicher. Selig schlüpfte Julie durch den Vorhang in ihr neues Leben.
Daan ging es besser; gemeinsam gingen die drei zum Turnierplatz, der, dem Anlass angemessen, wundervoll geschmückt war. Überall flatterten Fahnen und Banner, und es waren Baldachins aus Holzgestellen und Baumwolltüll aufgebaut worden, um die Plagegeister abzuhalten. Auf kleinen Tischen standen vorbereitete Speisen; sie stammten, wie Mathys erklärte, aus der Wirtschaftsküche, was an den Schüsseln aus hellerem Holz zu erkennen war. In farbenprächtigen Kaskaden war frisches Obst in den Schüsseln drapiert, aromatische Erdbeeren und Äpfel leuchteten mit duftenden Pfirsichen um die Wette. Gebratenes Geflügel knusperte in zarten Scheiben auf getriebenen Metallplatten, und süße Kekse verströmten einen natürlich-zarten Vanilleduft. Fröhliche Musik in angenehmer Lautstärke schwebte durch die laue Sommerluft. Die weißgrün getupften Jasminzweige mit ihren weit geöffneten Blüten, die ringsum in bauchigen Vasen standen, überlagerten alles mit betäubendem Wohlgeruch. Es war noch nicht dunkel, das war eine der Besonderheiten der Mittsommernacht. Essend, trinkend und plaudernd verbrachte Julie mit ihren neuen Freunden den schönsten Abend ihres bisherigen Lebens.
Um eine Minute nach zwölf tauchten die Mitglieder des Rates auf. Inzwischen hatten sie sich umgezogen und wirkten nicht mehr so einschüchternd. Chris erhob seine Stimme: “Es ist Zeit, zu euren Schlafstätten zu gehen und den Zauber Tallyns auf euch wirken zu lassen. Morgen früh werdet ihr mit neuen Fähigkeiten aufwachen – steckt mir nicht das Lager in Brand!“ Alle lachten. „Gute Nacht“, wünschte Chris noch, dann verschwand er mit Anouk, der Hüterin, im Getümmel. Nur Sekunden später tauchte er neben Julie wieder auf.
„Julie, das ist Anouk. – Anouk, das ist Julie, mein Schützling“, stellte er die beiden einander vor.
Anouk nahm Julies Hand in die ihre. „Es freut mich, dich kennen zu lernen, Julie“, sagte sie mit angenehmer Stimme. Anouk sah wunderschön aus. Ihre feinen schwarzen Haare bildeten einen scharfen Kontrast zu der hellen Haut und den roten Lippen. Sie trug ein ähnliches Samtband wie Julie um den Hals, nur dass ihr Anhänger golden und seltsam verschlungen war. An den zierlichen Ohren rankten sich kleine goldene Blüten empor. An beiden Unterarmen trug sie breite Reifen aus getriebenem Gold mit rätselhaften Zeichen, die scheinbar ohne jede Naht eng an ihren Handgelenken anlagen.
Julie schaute verlegen auf ihre Füße, sie wagte kaum, den Blick zu heben. Es war nicht nur die offensichtliche Schönheit der Hüterin; eine Aura der Macht und Weisheit schien sie fast greifbar zu umgeben. Ob irgendeine von den Anwärterinnen jemals diese Frau ablösen konnte? Das erschien Julie mehr als zweifelhaft. Chris und Anouk wandten sich zum Gehen. Anouk nickte Julie noch einmal zu, Chris sagte: „Schlaf schön Julie, und alles Gute für heute Nacht.“
Es war Zeit für Julies erste – und vielleicht wichtigste – Nacht in der magischen Stadt.
Eine wohlige Müdigkeit machte Julies Glieder schwer. Gemeinsam mit den anderen machte sie sich auf den Weg in ihr Zelt. Kaum angekommen, zog sich jeder in seine Kammer zurück, froh, sich endlich auf der Bettstatt ausstrecken zu können. Julie kuschelte sich tief in das frisch bezogene Bett und dachte über den Tag nach. Alles war besser geworden, seit sie heute Morgen erwacht war – nun ja, nicht alles, Swantje war noch da. Aber jedenfalls musste Julie nicht mehr jeden Morgen für Swantjes Familie arbeiten, um reiten zu dürfen, sie war nicht mehr abhängig von
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