Dryadenzauber (Die Saga vom Waldvolk) (German Edition)
die Obstbaumwiesen und die Gemüsefelder, lag die Kampfkunstschule. Mathys und Daan führten Julie durch den schönsten Garten, den sie je gesehen hatte. Bambushorste wechselten sich mit leuchtenden Päonien ab, einige Flächen waren mit feinem Kies bestreut und schienen aus Wasser zu bestehen, so fein war das Wellenmuster, das Leung Jan hineingeharkt hatte. Mit einem gemauerten Bogen und einer hölzernen Bogenbrücke, die sich über einen kleinen Arm des Dryadenflüsschens spannte, wirkte es fast unpassend asiatisch in Tallyns mittelalterlichem Gefüge nach westlichem Vorbild.
Die mit Reispapier bespannten Schiebewände der Kampfkunstschule waren geöffnet. Auf der Veranda vor der Schule saß Leung Jan mit einem anderen Mann. Leung Jan war überraschend klein und sah ganz harmlos aus. Das glatte schwarze Haar hing ihm in einem ordentlich geflochtenen Zopf den Rücken herunter, ohne seinen Schnauzbart hätte man ihn mit der zierlichen Figur bei flüchtigem Hinblicken für ein Mädchen halten können.
Der andere Mann war groß; aus der Entfernung wirkte er recht jung; erst bei näherem Hinsehen erkannte Julie, dass der Mann wohl doch schon älter war. Daan und Mathys fingen an zu tuscheln.
„Das ist der Kerl, du weißt schon!“, flüsterte Mathys.
„Bist du sicher?“, fragte Daan zurück.
Geruhsam tranken die beiden einander vertraut wirkenden Männer grünen Tee aus kleinen Schälchen; vor ihnen auf der Stange der Veranda hing verschwitzte Kleidung; anscheinend hatten sie vor kurzem geübt. Als Leung Jan die Anwärterinnen sah und aufstand, verabschiedete sich der fremde Mann.
„Bis bald, Karl“, sagte Leung Jan.
„Ich danke dir, Si-fu“, erwiderte der Mann.
Beide verbeugten sich voreinander. Dann ging der muskulöse Hüne mit dem Vollbart ohne Hast in Richtung des Portals im Jagdwald. Daan und Mathys sahen dem Besucher mit offenem Mund nach. Leung Jan nickte den Ankömmlingen zu. „Setzt euch ruhig schon in die Halle, wir beginnen pünktlich.“
Julie zog wie die anderen ihre Schuhe aus und trat ein. In der Halle war es erstaunlich kühl; der Boden war an einigen Stellen mit Reisstrohmatten bedeckt, der übrige Teil war aus hellem Holz und absolut plan geschliffen. Sie setzte sich auf eine der Matten. Jetzt traute Julie sich nicht mehr, etwas zu sagen. Sie war bestimmt nicht feige, aber die Aussicht auf ihren ersten Kampfkunstunterricht machte Julie nervös. Den anderen ging es offenbar genauso, denn von munterem Geschnatter war hier nichts zu hören. Die Halle füllte sich leise. Jeweils acht Mädchen und ihre Gefährten waren in einer Unterrichtsgruppe, für mehr hätte der Platz auch nicht gereicht. Noch bevor Swantje als Letzte eingetreten war, erklang ein Gong, nachhallend und tief, noch tiefer als auf dem Essplatz.
Alle erhoben sich und stellten sich in zwei Linien voreinander auf. Leung Jan öffnete die linke Hand und hob die Rechte zur Faust geballt an die offene Handfläche der Linken. Er verbeugte sich vor seinen Schülerinnen und Schülern. Hatte Julie nach Mathys begeisterten Kampfschilderungen gedacht, dass man gleich etwas auf die Mütze bekam, sah sie sich nun angenehm überrascht. Leung Jan begann mit dem, was er „Formtraining“ nannte. Die Anfängerform, die so genannte Siu Nim Tau, bestand aus teils weichen, teils energiegeladenen Bewegungen, die die Grundlage des Systems bildeten.
„Es wird eure Muskeln dehnen und kräftigen, wenn ihr die Form übt. – Es gibt drei Wege, ein guter Kämpfer zu werden. Der erste ist, Siu Nim Tau üben; der zweite ist, Siu Nim Tau üben; der dritte ist, Siu Nim Tau üben“, dozierte der Kampfkunstlehrer. Jemand kicherte. Leung Jan warf seinen dünnen Zopf mit Schwung über die Schulter seines glänzenden chinesischen Kung Fu-Anzugs. Hinter Julie sagte eine nur allzu bekannte Stimme: “Mann, ist das langweilig. Ich kann das jetzt. Wann machen wir denn was anderes?“
„S-S-S–Sei lieber still“, stotterte Dolf, der nicht zum ersten Mal bei Leung Jan im Unterricht war, in Richtung Swantje.
„Wieso?“ fragte die. „Findest du den Mist nicht langweilig?“
Leung Jan kam auf Swantje zu. Die Luft schien plötzlich erst dichter zu werden und dann zu brennen. Jeder im Raum war so still, dass man eine Nadel hätte fallen hören können.
„Hast du ein Problem, kleine Schwester?“, fragte Leung Jan leise, was ihn paradoxerweise noch gefährlicher erscheinen ließ. Swantje hatte den Mund schon offen, als sie sich an den ersten Unterricht
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