Dryadenzauber (Die Saga vom Waldvolk) (German Edition)
dem Essplatz war ausgelassen. Julie und ihre Gefährten diskutierten zum hundertsten Mal die üble Nummer mit dem Brief. Im Gegensatz zu dem Gager dachten Julies Freunde nicht, dass sie verrückt war oder vergesslich; Mathys und Daan waren eher besorgt wegen der offenbaren Boshaftigkeit, mit der jemand gegen Julie vorgegangen war. Julie hatte ihnen den Zettel gezeigt, und es war wirklich eindeutig, dass die Schrift darauf nicht Julies war. Gager aber waren nicht besonders gut im Lesen und machten sich über so nebensächliche Dinge wie die Handschrift keine Gedanken.
„Wer hätte denn etwas davon gehabt, wenn du durch die Prüfung gefallen wärst?“, fragte Mathys.
„Vielleicht jemand, der keine Konkurrenz mag“, erwiderte Daan.
„Vielleicht hat Swantje auch ihre Gefährten aufgehetzt, zuzutrauen wäre es ihr!“, sagte Julie.
„Ganz egal wer es war, du musst dich in Acht nehmen, so wie es aussieht hast du hier Feinde“, schloss Mathys mit Bedauern in der Stimme das Gespräch ab, denn der Gong zum Essen war ertönt.
Nach einem ausgiebigen Frühstück mit süßen Himbeeren, frischem Maisbrot für alle und duftenden Tomaten mit Ziegenfrischkäse für Mathys und Julie war die Laune der Freunde trotz des fiesen Anschlages wieder auf dem Höhepunkt. Jetzt ging die Ausbildung im Lager erst richtig los!
Julie wurde klar, dass die Mädchen vor der Falknerprüfung noch gar nicht richtig ernst genommen worden waren. Die Mühe, sie richtig zu unterrichten, machten sich die anderen Ausbilder erst nach dieser Prüfung. Von nun an wechselten die Fächer im Ein-Stunden-Rhythmus – und präsentierten sich mit bislang ungewohnter Stoff-Fülle.
Bis zur Jagd nach dem geheimnisvollen weißen Hirsch kurz vor Weihnachten standen keine Ausscheidungsprüfungen mehr an, die nächsten fünf Monate in Tallyn waren Julie also sicher. Und da sie noch nicht ahnte, welch dunkle Wolken sich über ihrer kleinen Welt zusammenbrauten, war Julie bester Dinge. Der erste Unterricht an diesem Morgen sollte um zehn bei Leung Jan stattfinden. Julie und die anderen würden von ihm in asiatischer Kampfkunst unterrichtet werden. Mathys war begeistert von Leung Jan. Er hatte Julie schon den halben Morgen von seiner Art zu kämpfen, den geschmeidigen Bewegungen und den wirkungsvollen Techniken erzählt.
„Du glaubst es nicht“, schwärmte Mathys schon wieder, “der Mann ist so schnell, das ist unfassbar. Bevor du Piep sagen kannst, bist du schon platt.“
Julie hatte noch nie gekämpft; sie war gespannt, was auf sie zukommen würde.
„Er ist bis jetzt noch nie besiegt worden, nur ein einziges Mal hätte er fast den Kürzeren gezogen. Der Vogt hatte einmal alle seine Schergen auf ihn gehetzt, und die hatten ihn umzingelt. Leung Jan kann gegen mehrere Gegner zugleich kämpfen, und er hat denen ganz schön zugesetzt. Aber es waren doch zu viele. Dann ist plötzlich dieser Fremde aufgetaucht und hat mitgemischt. Der Mann hat Leung Jan einige der Angreifer eine Weile vom Hals gehalten, so dass er den Rest erledigen konnte. Zum Dank unterrichtet er den Typen jetzt. Ist der einzige normale Mensch außer dem Pferdezüchter Maktoum, der ohne Gedächtnislöschung rein und raus darf.“
Julie hatte Mathys halb fasziniert und halb erschreckt zugehört. Dieser Leung Jan musste ja ein Riese sein, wenn er mehrere Leute gleichzeitig besiegen konnte!
Inzwischen hatte Julie sich daran gewöhnt, dass manche Leute in Tallyn steinalt waren, ohne dass man es ihnen ansah. So war sie nicht weiter überrascht, als sich herausstellte, dass Leung Jan eigentlich 181 Jahre alt war. Er hatte zum Erden-Jahrhundertwechsel (des 18. auf das 19. Jahrhundert) beschlossen, seine Kräuterapotheke in Fatshan zu schließen und ganz in Tallyn zu bleiben. Damals waren auf der ganzen Welt, auch in Asien, Portale verteilt; Leung Jan galt zu der Zeit auf der Erdenwelt als der König der Kämpfer und war vom Rat zur Verstärkung angeheuert worden; sozusagen langes Leben im Tausch gegen geheime Techniken. Seit seinem Umzug 1901 hielt man ihn in der Welt da draußen für verstorben. Da er auch vorher schon Zeit in Tallyn verbracht hatte, wirkte er seltsam alterslos. Seine Leidenschaft galt neben dem Kämpfen der Pflanzenheilkunde, die er ebenfalls unterrichtete.
Julie hatte sich etwas Bequemes angezogen. Der Weg zu Leung Jans Haus war recht kurz. Leung Jan wohnte direkt nordwestlich im Anschluss an das Lager. Sein Heim grenzte an den Weg zum Jagdwald. Hinter dem Haus, mit Blick auf
Weitere Kostenlose Bücher