Dryadenzauber (Die Saga vom Waldvolk) (German Edition)
bleiben? Ein Blick auf Mathys, auf seine gewellten Haaren und seine Grübchen im Gesicht gab ihr die Antwort.
„Er hat Recht“, sagte Julie, „es ist sowieso vorbei. Lass uns lieber dem Hirsch helfen, da tun wir etwas Sinnvolleres, als wenn wir hier herumsitzen und grübeln.“
Mathys nickte erleichtert. „Wir drei im Wald ist mir auch lieber, als hier bei den ganzen hysterischen Mädchen zu warten.“
So unauffällig wie möglich verschwanden die beiden im Gestrüpp. Als Anouk nach einer Weile allein wieder auftauchte, war von Julie und Mathys schon längst keine Spur mehr zu sehen.
Julie war heiß; obwohl die Luft im Wald jetzt schon angenehm abgekühlt war, standen ihr vor Anspannung kleine Schweißperlen auf der Stirn. Sie fühlte sich, als sei jemand gestorben. Es war aus, vorbei. „Hoffentlich geht es dem Hirsch gut“, flüsterte Daan, den sie inzwischen eingeholt hatten. Julies Gedanken machten sich selbständig: „Wenn ich dafür hier bleiben könnte, wäre es mir auch recht, wenn er stirbt …“ Erst einen Moment später wurde ihr bewusst, was sie gerade gedacht hatte, und sie schämte sich fürchterlich. Beide Jungen suchten den Waldboden nach Spuren ab. Und auch Julie, die noch nie jagen gegangen war, blickte suchend über das Unterholz. So ein weißer Hirsch musste doch auffallen, vielleicht lag er irgendwo im niedrigen Buschwerk? Die Scham über die schlechten Gedanken von gerade eben ließ Julie ihre Anstrengungen verdoppeln. Doch ohne Erfolg. Immer tiefer führte Daan den kleinen Trupp in den Wald. Der Weg war längst nicht mehr zu sehen. Die drei stiegen über Äste und kleine Felsbrocken. Einige bemooste Stellen waren sehr glitschig, einmal rutschte Julie sogar aus und konnte sich nur gerade so noch fangen. Zweige und piksige Ranken schlugen ihnen ins Gesicht. Immer wieder mussten sie Hänge hinaufklettern, was auf dem mit Blättern, Nadeln und Eicheln bedeckten Waldboden gar nicht so einfach war. Julies Gesicht war schon ganz zerkratzt und ihre Haare über den geröteten Wangen waren völlig zerzaust, als Daan plötzlich „Pst!“ sagte. Julie versuchte, ihr bis zu den Ohren klopfendes Herz langsamer schlagen zu lassen und so geräuschlos wie möglich zu atmen. Daan stand in gebückter Haltung, den Kopf mit seinem spitzen Ohr in eine bestimmte Richtung gedreht und lauschte. Mathys fiel es leichter kein Geräusch zu machen als Julie; zum einen war er das Jagen gewöhnt, zum anderen hatte ihn der Marsch nicht so angestrengt.
„Ich kann einen Hirsch hören“, flüsterte Daan, „aber ich weiß nicht, ob es der Richtige ist.“
„Egal“, gab Mathys genauso leise zurück, “wir versuchen es!“ Ein Blick zu Julie – sie nickte. So leise wie möglich gingen Mathys und Julie hinter Daan her, der zielstrebig voranlief. Der Wald lichtete sich und gab den Blick auf eine saftiggrüne Wiese frei. Mitten in einem Bett aus Klee und gelben Butterblumen lag das schönste Tier, das Julie je zu Gesicht bekommen hatte. Der weiße Hirsch hatte den Kopf gesenkt, als schliefe er. Er war wirklich komplett weiß, von der Geweihspitze bis zu den Hufen. Die Augen schienen geschlossen zu sein. Beim Näherkommen sah Julie überrascht, wie lang die seidigen Wimpern des Tieres waren. Als die drei sich dem unwirklichen Geschöpf atemlos näherten, fürchteten sie schon, der Hirsch sei tot. Doch als Daan nur noch ein kleines Stück von ihm trennte, schlug der Hirsch langsam, ohne jegliche Hast die Lider auf. Mit einem wachen, intensiven Blick aus seinen himmelblauen Augen schien das Tier die Sorgen der drei zu verspotten. Abrupt blieb Julie stehen. Der Hirsch erhob sich geschickt, knickte aber mit dem rechten Hinterbein sofort wieder ein. Auf drei Hufen, das letzte Bein schonend angehoben, stand das majestätische Tier aber schon kurz darauf in voller Pracht vor den Freunden. Unwillkürlich wich Mathys ein Stücken zurück wegen seiner überraschenden Größe. Auch Julie machte ein, zwei Schritte rückwärts. Nur Daan blieb stehen, wo er war. Er wollte offenbar unbedingt diesem Tier helfen, auch wenn er sich dabei in Gefahr begeben musste. Der Hirsch hatte ihm das Leben gerettet – gab es eine größere Schuld? Die Worte von Leung Jan und von Chris bezüglich der Göttlichkeit kamen Daan wieder in den Sinn. Einer Eingebung folgend, sank er vor dem mächtigen Wesen auf die Knie und sprach es an: „Krone des Waldes, hab’ Dank für deine Güte. Du hast mein Leben gerettet, und ich stehe tief in deiner
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