Dryadenzauber (Die Saga vom Waldvolk) (German Edition)
Tallyn. So unbesorgt wie Julie war er nicht; schließlich hatte er sich die Horrorgeschichten über den Vogt seine ganze Kindheit lang anhören müssen.
Um Julie herum entstand das Bild des sommerlichen Marktplatzes. Sie sah den Eingang der Korbflechter, roch die blauen Lavendelblüten der Kräuterfrau nebenan und spürte in Gedanken das huckelige Pflaster des Schlosshofes unter ihren Füßen. Für einen Moment schwollen die Geräusche an; sie hörte aufgeregtes Geschnatter von anderen Mädchen und die Stimme von Gertrud, der Korbflechterin. Die Geräusche ebbten ab und das Bild wurde seltsam durchsichtig. Geblendet stand Julie auf dem winterlich weißen Schlosshof.
Zuhause
Man hatte Julie gesagt, dass ihr Vater aus dem Torbogenhaus ausgezogen war und neben der alten Apotheke wohnte. Es waren nur wenige Schritte bis dahin, trotzdem konnte es Julie nicht schnell genug gehen. Sie rannte fast und hätte beinahe auf dem glatten Boden den Halt verloren. Nur mit Mühe schaffte sie es, sich am Treppengeländer der efeuumrankten Apotheke festzuhalten. Julie stieß sich kräftig die linke Schulter, als sie gegen die hohe Steintreppe schlidderte. Den Schmerz beachtete Julie nicht weiter, da war sie vom Schwertkampf inzwischen anderes gewöhnt. Endlich sah sie das Haus; Julie rüttelte an der Tür – sie war verschlossen. War es das falsche Haus? Suchend schaute sie sich um. Sie musste hier richtig sein, es stand „Denes“ auf dem Schild. Hinter den Fenstern war alles dunkel. Die Stirn in besorgte Falten gelegt, ging Julie um das Gebäude herum. Es gab einen Hintereingang; die Tür war nur angelehnt. Vorsichtig öffnete sie die knarrende Tür ein Stückchen weit und spähte hinein. In diesem Moment fasste ihr eine Hand auf die Schulter. Wie vom Blitz getroffen zuckte Julie zusammen, die inzwischen antrainierten Reflexe ließen sie sofort in eine Verteidigungsstellung gehen.
„Hallo mein Schatz, ähm, geht es dir gut?“ Herr Denes stand mit zwei riesigen Pizzakartons vor ihr. Wie peinlich. Julie grinste verlegen. Doch schon im nächsten Moment war alles vergessen. „Papa, wie geht es dir?“, quietschte sie und flog ihm um den Hals. Dass die Kartons im Schnee landeten und dort aufweichten, störte niemanden. Julie hatte ihrem Vater viel zu erzählen, und auch bei Herrn Denes hatte sich seit dem Sommer einiges verändert. Staunend ging Julie durch die geschmackvoll eingerichteten Räume; seit ihr Vater mehr Geld hatte, setzte er alles daran, ihr Zuhause schön zu machen. Julie hatte so viel entbehren müssen, er wollte dass sie es nun richtig gemütlich hatte. Sein Husten war besser geworden; nun, wo er nicht mehr nachts arbeiten und sich tagsüber um Julie sorgen musste, fand Julies Vater auch wieder Zeit für andere Sachen. Seine Holzschnitzereien waren wundervoll; so lebendig und naturgetreu. Fast konnte man vergessen, dass die Sachen aus Holz waren. Julies Zimmer war großartig geworden. Hier hatte Herr Denes angefangen, das Haus zu renovieren. Das Zimmer war seit zwei Monaten fertig und roch nicht einmal mehr nach Farbe. Als Julie den Raum sah, machte sie einen Freudenhopser. Sie hatte nun ein richtiges Jugendzimmer mit Massivholzmöbeln und einer kleinen Musikanlage. In so einen Raum konnte man auch schon mal jemanden einladen, soviel stand fest. Julie freute sich riesig. Trotzdem war ihr eines völlig klar: Vor einem Jahr hätte sie wer weiß was dafür gegeben, so ein Zimmer zu haben, doch heute war es ihr nicht mehr so wichtig. Es war ihr egal, was die Mädchen auf ihrer alten Schule dachten oder hatten. Sie hatte ihren Platz in Tallyn gefunden.
„Du bist erwachsener geworden“, stellte ihr Vater fest.
Julie lächelte. „Ist das gut oder schlecht?“
„Gut, denke ich“, sagte ihr Vater, aber sein leicht wehmütiger Blick sagte etwas anderes.
Die kommende Weihnachtszeit war die schönste, die Julie je erlebt hatte. Ihr Vater hatte sich frei genommen, um möglichst viel mit Julie zusammen sein zu können.
An Heiligabend war die Stimmung schon morgens ganz anders als früher. Statt der Hustenanfälle weckten Julie der Duft von Kakao und ein fröhliches „guten Morgen“. Als Julie in das gemütliche Wohnzimmer kam, fiel ihr Blick auf den Kamin. Dort stand das vertraute Foto von ihrer Mutter; es war natürlich vor Julies Geburt aufgenommen worden. Sie hatte als kleines Mädchen viel Zeit davor verbracht. Der schmale silberne Rahmen war penibel geputzt, das klare Glas schien das strahlende Lächeln
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