Dryadenzauber (Die Saga vom Waldvolk) (German Edition)
gingen schnell wieder nach Tallyn. Sie würde Mathys wiedersehen! Wie würde es sich anfühlen, was würde sie sagen? Einfach nur „Hallo“? Nicht zum ersten Mal merkte Julie, wie sehr sie Mathys vermisste. Die wenigen hundert Schritte bis zum Eingang des Torhauses legte Julie ganz in Gedanken zurück. Den dunklen Schatten, der ihr folgte, bemerkte sie nicht. Es war viel los, denn es war Epiphanias-Tag und ein bunter Markt fand statt. Eltern mit ihren Kindern nutzten den letzten schulfreien Tag und bummelten durch die Gassen. Überrascht blieb Julie kurz stehen. Am Eingang des Torhauses stand der Mann aus Leung Jans Garten, Karl oder so ähnlich. Er unterhielt sich mit einer dick vermummten Gestalt, die wachsam in die Runde blickte. Leung Jan! Der Chinese schien hier schon auf die Rückkehrer zu warten. Sie wurde hart angerempelt und stürzte fast. Erbost drehte Julie sich um. Für einen Augenblick traf ihr Blick auf zwei stechende Augen. Ein Schreck durchzog sie bis ins Mark; sofort war ihr klar: dieser Mann war gefährlich! Doch schon im nächsten Moment sah Julie nur noch den schwarzen Rücken im Bogen verschwinden. Hilfesuchend blickte sie zu Leung Jan und seinem Freund. Die beiden Männer unterhielten sich jedoch einfach weiter, als sei nichts geschehen; keiner hatte etwas bemerkt.
„Mathys hat mich wohl mit seiner Besorgtheit angesteckt“, dachte Julie. Achselzuckend ignorierte sie das ungute Gefühl in ihrem Bauch und ging weiter.
Plötzlich geschah alles ganz schnell. Julie sah für Sekundenbruchteile das ganze Gesicht unter der Kapuze des schwarzen Mantels, und das hämische Grinsen sagte ihr, dass sie mit ihrer Sorglosigkeit gerade einen üblen Fehler begangen hatte. Direkt darauf hörte sie ein Krachen und Knirschen. Einer der riesigen Jahrhunderte alten Natursteinquader des Torbogenhauses löste sich aus dem Gewölbe und raste im freien Fall genau auf Julies Kopf zu. Julie stand wie angewurzelt, die schreckgeweiteten Augen auf den scheinbar in Zeitlupe fallenden Stein gerichtet. Unerwartet erhielt sie zum zweiten Mal an diesem Tag einen harten Stoß. Leung Jans Freund Karl hatte mit beinahe unmenschlicher Geschwindigkeit reagiert und Julie mit einem Riesensatz aus der Gefahrenzone gestoßen. Dass sie dabei mit dem Kopf an die Wand des Torbogenhauses stieß und bewusstlos wurde, war mit Sicherheit das kleinere Übel. Die Verfolgungsjagd von Leung Jan, der den Täter zu fangen versuchte, stoppte schon am Ende des Torbogens, wo sich der Vermummte ohne Rücksicht auf eventuelle Zuschauer einfach entmaterialisierte. Glücklicherweise hatte ein Großteil der Marktbesucher seine Augen noch auf Julie und dem Stein, einige andere hatten ihre Aufmerksamkeit gerade dem Kastanienröster geschenkt, der eine frische Runde dampfend heißer Ess-Kastanien in kleine Papiertütchen füllte. Aber ein kleiner Teil der Menschen sah doch verblüfft zu, wie sich ein Mann einfach in Luft auflöste.
Julie erwachte nun schon zum zweiten Mal in der Burg. In der gleichen Kammer wie beim letzten Mal. Ihr Kopf dröhnte entsetzlich. Als Julie sich aufsetzte, wurde ihr schwindelig. Was war bloß passiert? Sie konnte sich an gar nichts mehr erinnern. Vorsichtig griff Julie neben das Bett, um sich ihre Kleidung zu angeln. Diesen Versuch nahm ihr der geschundene Körper übel. Sie schaffte es gerade noch, die bereitgestellte Kupferschüssel vom Schemel zu greifen. Würgend erbrach sich Julie. Der Schlag war wohl doch heftiger gewesen, als sie gedacht hatte. Jemand war so vorausschauend gewesen, auch eine Schüssel mit klarem Wasser und frische Leinentücher auf den Stuhl zu legen. Julie spülte sich so vorsichtig wie möglich den Mund aus und tupfte sich mit den Tüchern ab. Danach hämmerte ihr Kopf so stark, dass sie sich mit einem Seufzer ganz vorsichtig wieder in ihr Kissen zurücksinken ließ. An Anziehen war gerade gar nicht zu denken.
Julie hatte sich von den Strapazen des Übergebens ein bisschen erholt, als es an die wuchtige Tür klopfte. „Ja, bitte“, rief sie laut und deutlich, wusste sie doch, wie sehr diese dicken Türen Geräusche dämpften. Diese Umsicht tat ihr aber sofort wieder leid, das laute Rufen schien in ihrem Kopf ein nicht enden wollendes Echo an Schmerzwellen auszulösen. Anouk betrat den Raum. Schön wie immer, sprach sie mit leiser sanfter Stimme, denn als erfahrene Heilerin wusste sie um die Geräuschempfindlichkeit der kranken Anwärterin. „Ich habe dir eine Arznei gegen den Schmerz und die
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