Dryadenzauber (Die Saga vom Waldvolk) (German Edition)
Weihnachten, passen würde es.
Julie ging zurück in ihre Kammer und holte sich Wollsocken aus der Truhe. So ausgestattet machte sie sich auf den Weg zum Zelteingang. Sie würde nicht ganz herausgehen, schließlich musste sie keiner im Schlafhemd mit Wollsocken sehen. Julie lugte vorsichtig aus dem Spalt. Das hatte sie nicht erwartet: Alles war weiß, der Essplatz, die Zeltdächer und die Bäume. Selbst die Zinnen der Burg, die sich über den Zelten zur Rechten erhoben, sahen aus wie mit Zuckerguss überzogen. Es bestand kein Zweifel: Es war Winter in Tallyn.
Julie liebte Schnee; sofort war alle Vorsicht vergessen. Sie hüpfte auf Socken aus dem Zelt und formte mehrere Schneebälle. Dann griff sie sich die Größten von ihnen und lief zurück ins Zelt und vor Kims Kammer. Mit einem fröhlichen „Aufstehen! Es schneit!“ warf sie einen Schneeball auf die selig schlummernde Kim. Was dann passierte, hätte man auch vorausahnen können, jedenfalls wenn man mit Magie aufgewachsen wäre. Kim machte sofort die Augen auf, aber sie sah nicht den Schneeball auf sich zurasen, wie Julie es geplant hatte. Stattdessen traf ihr erster Blick an diesem Morgen auf eine verdattert auf dem Boden sitzende Julie, die über und über mit feinem Schnee bestäubt war.
„Naja“, dachte Julie, „wenigstens weiß ich jetzt, dass mich keiner im Schlaf mit Pfeil und Bogen erledigen kann.“ Ganz offensichtlich schirmte der Türschutz auch gegen Gegenstände ab, die ohne den Kammerbewohner durch den Eingang kommen sollten.
Kim lachte sich scheckig, und Julie stimmte gutmütig mit ein. Schließlich hatte sie angefangen mit dem Unsinn. Nacheinander kamen die anderen aus ihren Kammern. Bille sah durch die Zelttür auf den Schnee und rief: “Wer zuerst draußen ist!“ Wie auf Kommando rannten alle in ihre Kammern, Truhendeckel klapperten. Mathys war als Erster draußen; als Julie aus der Zeltöffnung kam, rieb er ihr eine Menge sauberen Schnee ins Gesicht.
Es war Zeit für den Umzug ins Winterlager - und damit bald auch für Zuhause. Auf dem Weg zum Winterhaus mit einem Teil ihrer Sachen wurde Julie in der allgemeinen Hektik fünf Mal angerempelt. Mit einem gemurmelten „Entschuldigung“ zogen die ungeschickten Gestalten jeweils weiter. Teilweise trugen die Neu-Tallyner kurze Hosen zu Pelzmänteln oder sommerliche Tops zu festen, warmen Lederhosen. Anscheinend waren die magischen Truhen mit den verwirrenden Wünschen der Anwärterinnen nicht ganz zurechtgekommen. Julie hatte es ganz gut hinbekommen. Zu den warmen, mit Seide gesteppten Tuchhosen trug sie einen Wollpullover und eine gewachste Leinenjacke, so dass ihr die schmelzenden Flocken nicht viel anhaben konnten.
Alle waren vollkommen in Aufbruchstimmung, denn zum Umzug kamen auch noch die Vorbereitungen für den Weihnachtsurlaub der Mädchen. Jetzt dauerte es nicht mehr lange, und Julie würde ihren Vater endlich wiedersehen. Tagsüber war sie zwar abgelenkt, aber abends, alleine in ihrer Kammer, machte sie sich immer noch häufig Sorgen um ihn. Genau zwei Wochen vor dem Weihnachtsfest bis zwei Wochen danach durften die Anwärterinnen das erste Mal nach Hause. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der Rat es für zu gefährlich gehalten; man fürchtete immer noch Übergriffe von Seiten des Vogts. Doch nun hatten die Mädchen schon sechs Monate Training hinter sich; das würde reichen müssen, denn keines der Mädchen würde wohl am wichtigsten Festtag des Jahres auf den Besuch bei ihrer Familie verzichten wollen.
Im Winterhaus war es angenehm warm. Julie hatte damals, als sie die Jungs abgeholt hatte, gar nicht bemerkt, dass es auch hier einen Tee-Raum gab. Wie der Vorraum im Zelt war hier alles mit Teppichen ausgelegt, und es standen in Grüppchen kleine Schemel herum. Zusätzlich gab es einladend flauschige Schaffelle und kuschelige Decken, die überall verteilt waren. Die Mitte des Raumes bildete eine Art Feuerstelle, in einem gemauerten Kreis lag ein großer Findling. Julie sah kein Holz; musste man es selbst sammeln?
Mathys kam in den Raum, gefolgt von Daan. „Wir müssen wohl erst einmal Holz sammeln“, sagte Julie, „sonst bleibt es hier wohl nicht warm.“ Mathys und Daan sahen sich an. Verwundert beobachtete Julie, wie die beiden von einem Moment auf den anderen losprusteten. Julie war klar, dass sie irgendetwas Dummes gesagt haben musste; sie war zornig. „Ganz toll, macht euch nur über mich lustig“, sagte sie wütend. Julie stapfte in ihre Kammer und schmiss die
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