DSR Bd 4 - Das Schattenlicht
gesehen, und als sie näher herankamen, erblickte er den unverdeckten, kunstvoll in den Fels gehauenen Eingang zu einem großen Grabmal oder vielleicht sogar zu einem Totentempel. Als sie ein paar Minuten später dieses beeindruckende Bauwerk erreichten, sah Charles, dass es an einer der Seiten einer breiten Fläche lag, die mit den Wänden eine Art Schüssel bildete und durch einen zweiten großen Canyon erschaffen worden war, der zusammen mit der Hauptschlucht eine ziemlich große Y-Verbindung formte – der Ort, wo drei Arme zusammenliefen.
»Wir halten hier für die Nacht«, sagte Charles in seinem Kauderwelsch-Arabisch zu Shakir. »Schlag ein Lager auf.«
Charles, der die Detailarbeit den fähigen Händen seines jungen Assistenten überließ, unternahm eine vorläufige Untersuchung des Areals. Unglücklicherweise gab es nicht viel zu sehen. Welche Anzeichen er auch immer zu entdecken hoffte, die ihn zum Grabeingang führen mochten – sie waren nirgendwo zu finden. Abgesehen von den verstreut vorhandenen, nicht tief in den weichen Stein geschlagenen Begräbnisnischen und dem höhlenartigen Raum der Tempelruine – oder was auch immer das darstellte – gab es noch nicht einmal so etwas wie einen Riss oder eine Fuge irgendwo in den Wänden.
Charles führte eine längere Erkundung jedes Wadi-Arms durch, erblickte aber nichts, von dem er glaubte, es könnte die Anwesenheit eines Grabmals anzeigen. Obschon es sicherlich unerfreulich war – vollkommen unerwartet traf es ihn nicht. Er war immerhin ausgerüstet mit Ausgrabungswerkzeugen hergekommen. In dieser Nacht ging er unter dem diamantenübersäten Himmel schlafen mit der Gewissheit, dass er morgen Anens letzte Ruhestätte ausfindig machen würde … und sprudelte am nächsten Morgen immer noch vor Gewissheit über, als er seinen Schlafsack verließ, seine Stiefel anzog und mit einer ordentlichen, systematischen Suche begann. Er schritt in der Y-förmigen Verbindungsstelle umher und sprudelte weiterhin vor gespannter Erwartung, während er mit einem langen Eisenstab gegen die Seiten und auf den Boden der Schlucht klopfte. Bei jedem Pochen und stärkeren Schlagen lauschte er nach einer Geräuschveränderung, die einen Hohlraum verraten könnte, oder schaute nach einer äußerlichen Änderung des Felsgesteins.
Die Arbeiter, die aufgestanden waren, sich um die Tiere gekümmert und gefrühstückt hatten, saßen nun unter ihren Turbanen da und sahen zu, wie er durch das Wadi schlich und ähnlich einem Dieb an Hauswände klopfte, um einen verborgenen Schlupfwinkel zu finden. Und das war natürlich auch genau das, was er tat.
Als die Sonne hoch genug gestiegen war, um damit anzufangen, heißes Licht nach unten auf den Boden des Wadis zu gießen, kam Shakir mit einer Schüssel voller gestampfter Backpflaumen heran, die mit Pinienkernen vermischt waren, sowie einem Becher Wasser und bat seinen Dienstherrn dringend, zu essen und sich ein wenig auszuruhen. Entmutigt durch den fehlenden Erfolg, stimmte Charles widerwillig zu und setzte sich in den Schatten eines der niedrigen Zelte, die nun die östliche Wand säumten. Während er seinen Brei mampfte und das Wasser schlürfte, betrachtete er den beinahe ebenen Boden aus Schotter, Kieselsteinen und Sand. Es kam ihm der Gedanke, dass Zeit und Wetter während der letzten viertausend Jahre sich verschworen hatten, um die Ausgestaltung des Wadis zu verändern – fast unmerklich vielleicht, doch genug, um einen leichten Zugang zu seinen verborgenen Schätzen zu verhindern. Eindeutig war eine neue Taktik zur Auffindung des Grabes notwendig.
Er beendete sein Frühstück und rief Shakir zu sich, damit er sich ihm an der westlichen Wand anschloss. Der junge Mann beobachtete, wie Charles von der Ecke aus, wo die Schluchtenarme aneinanderstießen, ein Dutzend Schritte losmarschierte und dann ein weiteres Dutzend ging. Anschließend ritzte Charles zwei tiefe Linien in den losen Kies des Bodens der Schlucht, wobei er seinen Eisenstab als überdimensionierten Stift benutzte: eine kurze Linie von ungefähr einem Meter, die lotrecht zum Felsenvorhang führte, und eine etwas längere, die parallel zur Wand verlief. Dann zeigte er auf den Raum, den er gerade eingegrenzt hatte, ahmte pantomimisch das Graben nach und sagte: »Ich will, dass dies alles abgeräumt wird.« Er packte eine Hand voll loses Bruchgestein aus dem von ihm gekennzeichneten Rechteck und warf es zur Seite. »Siehst du? Ich will ein Loch graben.«
Shakir schaufelte
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