Du bist das Boese
Was ein junges Mädchen für eine Wirkung auf den hat. Mütze und dunkle Sonnenbrille. Im Auto, bei Dunkelheit.
Abend
Balistreri hatte eine knappe Stunde. Das würde reichen, um zu Fuß nach Trastevere zu gehen. Der hartnäckige Sprühregen, mit dem sich das Jahr 2005 von den Römern verabschiedete, war ihm gerade recht.
Er ging die Via Nazionale hinunter. Die Menschen verließen die Geschäfte, die schlossen, und füllten die Restaurants, die öffneten. Das Geld verlagerte sich von der Kleidung aufs Essen.
Als er den Tiber überquerte und vom dunklen Ufer der Innenstadt mit ihren heruntergelassenen Rollgittern in das von Lokalen erleuchtete Trastevere hinüberwechselte, verfinsterte sich seine Miene, wie jedes Mal, wenn er den Fluss zwischen sich und die weltliche Macht legte und sich der geistlichen Macht des Vatikan näherte.
Der Macht, deren Strafe sich keiner entzieht.
Diese Überzeugung war nach 1982 allmählich in ihm gewachsen, unerbittlich und gegen seinen Willen. Das war die Rache der katholischen Erziehung, die er in seiner Jugend verleugnet hatte.
Auf einmal stand Linda Nardi vor ihm. Ihre tiefgründige, rätselhafte Schönheit war wie immer auffallend nachlässig verpackt. Ein ebenso unwiderstehlicher wie endgültiger Kontrast.
Wie eine Nonne in Klausur, die der Welt draußen einen kurzen Besuch abstattet.
Balistreri hatte bewusst in einer überfüllten Pizzeria reserviert. Studenten und Familien, ein einfaches Ambiente mit viel Trubel, was sie nicht im Geringsten zu stören schien.
Sie bestellten Pizza. Er gönnte sich ein Bier dazu, während sie ihn wissen ließ, dass sie keinen Alkohol trank. Die teuren Weine hatte sie also nur ausgewählt, um diesem Angeber von Colicchia eine Lektion zu erteilen.
Eine Zeit lang unterhielten sie sich über Banalitäten wie Weihnachten, Besorgungen, Geschenke. Unwichtiges Zeug, das offenkundig keinen von beiden interessierte, doch er hielt es für angebracht, eine gewisse Distanz zu wahren, bevor sie das eigentliche Thema anschnitten. Und wohlerzogen, wie sie war, machte sie das Spielchen mit.
Dann berichtete Balistreri von den neusten Erkenntnissen im Fall Nadia, nur das Allernötigste, doch selbst das schien sie kaum zu interessieren.
In der Pizzeria war es sehr heiß. Irgendwann zog Linda die lange Jacke aus, die sie über der grauen Hose trug. Unter ihrer Bluse zeichneten sich zarte Konturen ab, und Balistreri konnte es sich nicht verkneifen, einen kurzen Blick zu riskieren, wie er es in solchen Situationen halt zu tun pflegte. Und schon war sie wieder da, die vertikale Falte auf ihrer Stirn.
Ein langes Schweigen breitete sich aus. Erst als der Nachtisch kam, entspannte sich Linda, probierte ihr Tiramisù, lächelte dem Kellner anerkennend zu und bat ihn, dem Koch ihr Kompliment auszusprechen. Nach einer Weile kam der Koch, ein ganz junger Ägypter, persönlich an ihren Tisch.
»Sie sind sehr freundlich, Signora«, sagte er demütig.
»Und Sie sind ein sehr guter Koch.« Linda stand auf und umarmte ihn. Balistreri beobachtete diese Szene leicht erstaunt.
Liebenswürdigkeit ohne Hintergedanken, Mitgefühl mit Schwächeren. Ich hatte fast vergessen, dass es so etwas gibt.
Ein erschreckender und aufwühlender Gedanke, den er fast wütend von sich wies.
Er wartete, bis sie wieder saß. »Sie möchten etwas ganz anderes mit mir besprechen, nicht wahr?«
»Nur wenn es Ihnen nichts ausmacht. Ich möchte nicht aufdringlich erscheinen.« Diese Höflichkeit war ihm fast unangenehm.
»Hören Sie, ich danke Ihnen für Ihren Anruf bei Pasquali. Sie haben mir damit sehr geholfen. Ich habe Ihnen die Informationen über Colajacono und die Vermisstenanzeige der Iordanescu gegeben, und ich garantiere Ihnen, dass Sie die Erste sein werden, der ich …«
»Ich bin nicht hier, um mit Ihnen über die Zukunft zu reden«, sagte sie schlicht.
Das nächste Verbrechen interessiert dich nicht. Du willst über das letzte reden. Ich nicht.
»Meinetwegen. Aber machen Sie sich keine Hoffnungen, irgendetwas zu erfahren, worüber Sie schreiben könnten.«
»Sagen Sie mir nur, warum Sie nicht daran glauben.«
Er fühlte sich völlig überrumpelt. Das Gefühl, die Situation nicht unter Kontrolle zu haben, war beängstigend und faszinierend zugleich.
»Wovon reden Sie?«, fragte er schroff.
»Von den drei jungen Roma und dem vierten Täter, den sie erwähnten.«
»Wie kommen Sie auf die Idee, dass ich nicht daran glaube?«
»Weil Sie nicht zur Ruhe kommen, das sieht man.
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