Du bist das Boese
über ihnen, Stimmen, ein Fernseher. Während die Welt im neuen Jahr erwachte, überkam Piccolo endlich eine tiefe Schläfrigkeit.
Rudis Stimme klang so fern, als käme sie aus einer der Nachbarwohnungen. »Mircea und Greg waren bei Ramona im Zimmer. Sie beschimpften und schlugen sie. Ich lag in meinem Bett und hatte wahnsinnige Angst. Irgendetwas wollten sie von ihr, aber ich konnte nicht verstehen, was. Dann kam Mircea und holte mich rüber.«
Piccolo spürte, wie das Pulsieren in ihrem Schädel nachließ und in den Wogen der Müdigkeit verebbte. Der Alkoholgeruch gefiel ihr und auch die leisen Geräusche aus den anderen Wohnungen und das graue Morgenlicht.
»Ramona weinte. In ihrem Zimmer herrschte wieder das totale Chaos. Greg sagte, wenn sie ihnen nicht helfe, würden sie sich mich vorknöpfen. Sie bettelte sie an, mich in Ruhe zu lassen, und versprach, alles zu tun, was sie verlangten. Aber was die beiden suchten, besaß sie nicht. Dann holte Mircea den Besen …«
Piccolo spürte, dass er ihre Hand nahm. Im Dämmerzustand hörte sie seine Stimme jetzt ganz nah. Er hatte sich neben ihr auf dem Sofa ausgestreckt und redete und redete. Dann kitzelte sein Atem sie an der Nasenspitze, und seine Lippen berührten sanft die ihren. Ihr wurde bewusst, dass ihre eigene Hand die von Rudi nach unten gelenkt hatte, unter den Gummibund ihrer Trainingshose, in ihren Slip. Dann verschwamm alles in einem Traum.
Der letzte Mann, der versucht hatte, sie anzufassen, war der Junge auf dem Gymnasium gewesen. Grob, brutal, hastig. Genau das Gegenteil von Rudi.
Die Gewalt der letzten Stunden, die Gewalt aller Männer dieser Welt zerrieselte in diesem einen Augenblick, löste sich auf unter diesen sanften, neugierigen Fingern. Die Lust überkam sie aus einer fernen Vergangenheit, verhalten erst, dann immer stärker. Unaufhaltsam.
Als Piccolo viele Stunden später aufwachte, war das Fieber verschwunden.
Balistreri kannte die Akte Samantha Rossi auswendig. Jeden Namen, jedes Foto, jeden Zeitplan. Aber jetzt, da er das E auf Nadias Stirn gesehen hatte, wollte er sie noch einmal lesen. Er öffnete das Fenster.
Großartig. Kalte Luft, Stille, Regen.
Als Erstes die Obduktion. Zahlreiche Hiebverletzungen und Spuren sexueller Misshandlung. Dann die Strangulation. Dann das Einritzen. Er verweilte bei der Beschreibung der Handlungen, die zum Tod geführt hatten. Anhaltender, starker Druck beider Hände am Halsansatz. Präzise Abdrücke von Daumen. Kräftige Hände, eindeutige Tötungsabsicht.
Anschließend las er das Geständnis der drei Roma. Sie waren früh in die Kneipe gekommen und hatten nur Geld für ein Bier dabei. In dem Lokal lernten sie, als sie von der Toilette kamen, den vierten Mann kennen. Er sprach Italienisch, hatte reichlich Geld, aber keine Freunde, und wollte feiern. Er gab ihnen hundert Euro dafür, dass sie auf sein Wohl tranken. Dann verschwand er, und sie soffen eine Stunde lang weiter. Irgendwann war er wieder da und schickte sie zum Koksen aufs Klo. Sie verloren ihn aus den Augen, aber um Viertel vor zehn stand er plötzlich in der Kneipentür und rief sie zu sich. »Wir gehen zu den Frauen«, sagte er.
Sie verstanden das als Einladung, auch noch zu den Nutten zu gehen, und folgten ihm. Draußen bot der Fremde ihnen noch mehr Kokain an. Dann sahen sie das Mädchen, das auf sie zugerannt kam. Der Platz war menschenleer, an der Haltestelle stand niemand. Der Fremde packte sie als Erster. Als der Bus vorbeifuhr, halfen sie ihm, sie in die Büsche zu zerren. Er schlug Samantha ins Gesicht, ein harter Schlag, und sie verlor das Bewusstsein. Sie trugen das Mädchen zur Mülldeponie. Der Mann hatte immer noch genug Whisky für alle im Rucksack. Als das Mädchen wieder zu sich kam, begann das Blutbad. Keiner der drei Roma konnte genau sagen, was er im Einzelnen getan hatte, und was der vierte Mann getan hatte, wussten sie auch nicht. Einer der drei hatte zu Protokoll gegeben, dass der Unbekannte sich damit begnügt habe zuzusehen und zu rauchen. Als das Mädchen ohnmächtig wurde, war er verschwunden, und sie kehrten in ihren Wohnwagen zurück. Sie konnten sich nicht daran erinnern, ein Armband mitgenommen zu haben. Und erst recht nicht daran, dem Mädchen ein R in den Rücken geritzt zu haben. Man unterzog sie einer grafologischen Untersuchung, wenn man das überhaupt so nennen wollte. Alle drei waren Analphabeten.
Balistreri kam zu dem Teil, der ihn am meisten interessierte. Das Phantombild des vierten Mannes.
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