Du bist das Boese
Leider hatten die drei Roma nur vage Aussagen gemacht. Unauffällige Gesichtszüge, lange, glatte Haare an der Stirn und an den Seiten, Schirmmütze, große Brille. Was seine Statur anging, waren sie noch ungenauer, da reichten die Angaben von eher mittel bis sehr groß.
Er betrachtete das Phantombild. Das konnte jeder sein. Das Haar war vermutlich eine Perücke, die Brille übertrieben groß. Wie die Schirmmütze und die Sonnenbrille des Autofahrers aus der Via di Torricola.
Er blätterte noch einmal zurück zur Schilderung des Tathergangs. Nachdem er Samantha den ersten Fausthieb versetzt hatte, war der vierte Mann in den Schatten getreten und schließlich ganz verschwunden.
So etwas hatte Vasile auch über den Mann ausgesagt, dem er seine Giulia geliehen hatte. Den Mann, der ihm Nadia und die zwei Flaschen Whisky hatte zukommen lassen. Die beiden Unbekannten waren einander sehr ähnlich. Wenn es nicht ein und derselbe war.
Seine Gedanken verhedderten sich im Labyrinth der Fakten, und es schien sinnlos, das Fadenende zu suchen, von dem aus sich alle Knoten lösen lassen würden. Das Ganze war einfach zu verworren.
So saß Balistreri am ersten Morgen des neuen Jahres in seinem Büro, trank Wasser, hörte Musik und wartete. Er wartete auf eine Intuition.
Irgendwann begann sich so etwas wie ein Gedanke herauszukristallisieren, verschwommen und zaghaft: der Unsichtbare.
Er richtete es so ein, dass er kurz vor der Mittagspause an der Zeitungsredaktion vorbeikam, und passte Linda Nardi vor dem Eingang ab. Sie machte einen ausgeruhten Eindruck, als wäre sie sehr früh schlafen gegangen, ohne den Jahreswechsel zu feiern. Vielleicht hatte sie sogar, während ringsum die Champagnergläser klirrten, ein gutes Buch gelesen und Tee getrunken.
»Ich wollte in der Bar gegenüber einen Kaffee trinken«, schwindelte er ohne jedes Schamgefühl.
Sie ließ sich nicht anmerken, ob sie die platte Ausrede durchschaute, und auch ihr turbulentes Abendessen nahm sie ihm offenbar nicht übel. Sie schien sich vielmehr zu freuen, ihn zu sehen. Als wäre nichts geschehen. Die übliche übertrieben höfliche Art, die wie eine Mauer zwischen ihnen stand.
»Ich habe es gerade im Radio gehört«, sagte sie nur.
»Die Zeitungen haben gestern Morgen eine Beschreibung des gesuchten Autos abgedruckt, und Colajacono hat einen anonymen Hinweis erhalten.«
Linda Nardi sah ihn an, ohne auch nur eine einzige Frage zu stellen.
»Ich werde Ihnen Rede und Antwort stehen, das war unsere Abmachung. Als Dankeschön dafür, dass Sie Pasquali angerufen haben.«
Sie überraschte ihn mit einer völlig unerwarteten Frage.
»Wer ist Marius Hagi?«
Balistreri schwieg einen Moment, versunken in eine Erinnerung, die diese Frau jedes Mal, wenn sie ihn mal wieder aus dem Tritt brachte, wachzurufen vermochte. Dann erzählte er ihr von Hagi, Greg, Mircea und seinem Abendessen mit Nadia.
Sie hörte sich die Geschichte kommentarlos an. Danach stellte sie ihm eine weitere unerwartete Frage.
»Wann ist Hagis Frau Alina gestorben?«
»1983«, antwortete er spontan. Obwohl er den Grund dieser Fragen nicht verstand, redete er gern mit ihr. Es war, als müsste er über eine dünne Eisschicht gehen, um an die Pforte zum Paradies zu gelangen.
Linda Nardi fuhr mit dem Finger die Spur eines Kaffeetropfens auf dem Stahltresen nach.
Er sah ihr gebannt zu, als wäre sie die gute Fee aus dem Märchen.
Nachmittag
Corvu hatte sich offenbar bestens erholt. Außerdem war er flotter gekleidet als sonst, mit einem gewagten dunkelgrünen Hemd über der Jeans und einem Hauch Gel im kurzen schwarzen Haar.
Als der Zwerg ihn sah, pfiff er die Melodie von Love Story ,und Corvu durchbohrte ihn mit dem Blick. Sie versammelten sich um den Tisch in Balistreris Büro.
Mastroianni berichtete detailliert über alle Einzelheiten seines Gesprächs mit Ramona.
»Was hat sie dir über das Apartment erzählt, in das sie mit dem vornehmen Kunden gegangen ist?«, wollte Balistreri wissen.
»Was meinen Sie, Dottore?«, fragte Mastroianni zurück.
Er ist zwar ein hübscher Kerl, aber nicht sehr clever. Ihm ist immer noch kein Licht aufgegangen. Oder bin ich schon so abgebrüht?
»Das Schlafzimmer, Mastroianni. Was stand drin, wie war es eingerichtet?«
»Da gab es wohl jede Menge pornografisches Zeug, Plastikdildos, Peitschen, Handschellen, einen großen Spiegel an der Decke …«
Nichts zu machen, er kommt nicht drauf. Vielleicht kenne ich mich mit diesen Dingen einfach zu gut aus. Ein
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