Du bist das Boese
und nett. In ihren Grundsätzen aber unbestechlich und umso gefährlicher. Ihre Augen waren erfüllt von der ruhigen Gewissheit, im Recht zu sein.
Die Augen von Menschen, dich ich geliebt habe. Die Werte, die ich verloren habe.
Dieser Gedanke versetzte ihn um vierzig Jahre zurück in seine Vergangenheit. Etwas in ihm zerbrach, etwas, das von sehr weit her kam. Wie eine gewaltige Welle, die nach einer Explosion am Meeresgrund endlich an ein Ufer rollt.
»Du bist verrückt«, rutschte es ihm heraus.
Sie wussten beide, was dieses »verrückt« bedeutete. Dieses achtlos hingeworfene Wort war eine wackelige Brücke über den reißenden Fluss, der sie voneinander trennte.
Was soll das, Balistreri? Du bist ein alter Knacker. Mach dich nicht auch noch vor anderen lächerlich. Schlimm genug, dass du es vor dir selbst schon bist.
Sie schenkte ihm ein sanftes Lächeln, das erste richtige Lächeln, seit sie sich kannten.
»Nach der Wahrheit zu suchen, ist Teil meines Lebens, Teil von mir. Ich habe meinen Vater nie kennengelernt, und ich weiß immer noch nicht, warum. Als Mädchen war ich furchtbar aufsässig und aggressiv. Ich habe meine Klassenkameraden verprügelt, Jungen wie Mädchen.«
Balistreri starrte sie bestürzt an. »Das glaube ich nicht.«
»Irgendwann zeige ich dir mal ein paar Fotos. Ich war frühreif, körperlich und seelisch. Mit elf war ich voll entwickelt. Ich besuchte eine private Mittelschule, die Carlo Magno. Auf das Gymnasium nebenan gingen die größeren Jungs, in denen ich den Vater suchte, den ich vermisste. Wenigstens war das die Begründung des Psychologen, als dann die Probleme begannen.«
»Was für Probleme?«
Sie schüttelte den Kopf, verloren in einer dieser drückenden, unauslöschlichen Erinnerungen, für die Balistreri ein großer Experte war.
»Ich bekam Schwierigkeiten und musste die Schule verlassen. Zum Glück heilt die Liebe alle Wunden. In diesem Fall die Liebe meiner Mutter. Sie war immer an meiner Seite und sorgte dafür, dass ich Hilfe bekam. Bis ich die Schule wieder besuchen konnte. Mit den besten Ergebnissen, da ich anscheinend das Glück habe, intelligent zu sein.«
»Und gerade weil du intelligent bist, solltest du einsehen, dass es nicht die Aufgabe einer Journalistin ist, Mörder zu suchen, sondern die der Polizei.«
Sie nickte. »Bis Mitternacht muss Colajacono mir den Namen sagen. Ich verspreche dir, dass ich ihn dir sofort mitteile. In Ordnung?«
Er zögerte. Es behagte ihm nicht, sie schon wieder um einen Gefallen bitten zu müssen, aber es ging nicht anders. »Ich brauche noch einmal deine Hilfe.«
Wieder hörte sie ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen. Sie stellte keine Bedingungen, um seiner Bitte nachzukommen. Kurz darauf trennten sie sich auf dem menschenleeren Platz vor dem Pantheon. Gern hätte er sie im Regen in seine Arme geschlossen. Stattdessen ließ er sie mit einem knappen Gruß gehen.
Auf dem Weg nach Hause wuchs seine innere Unruhe. Auf halber Strecke, nicht weit von der Stazione Termini, fand er eine geöffnete Bar. Sie war überfüllt von Einwanderern. Die Asiaten drängten sich an den Geldautomaten. Die Osteuropäer tranken Hochprozentiges. Die Afrikaner versuchten den wenigen, durchgefrorenen Passanten gefälschte Designertaschen anzudrehen. Und alle scherten sich einen feuchten Kehricht um irgendwelche Verbote und rauchten.
Balistreri nutzte das aus, um sich die letzte Zigarette des Tages anzuzünden. Hier und da wanderten die Scheinwerfer eines Autos über den Platz. Mitternacht war gerade vorbei.
Er rief Coppola an. »Alles klar, Dottore. Colajacono ist noch im Kommissariat. Er war nur kurz mit Tatò in der Trattoria gegenüber. Keine Sorge, ich lasse ihn nicht aus den Augen.«
»Prima, Coppola, danke.«
»Dottore«, fügte Coppola hinzu. »Ich wollte noch sagen, dass mein Sohn das Endspiel mit zweiunddreißig Punkten gewonnen hat.«
»Wer weiß, ob er wirklich dein Sohn ist, Coppola.« Gelächter, ein Gruß zum Abschied.
Dann rief er Mastroianni an.
»Alles in Ordnung, Dottore. Ramona sitzt neben mir, wir sind auf dem Weg vom Flughafen in die Stadt.«
»Ich möchte sofort mit ihr sprechen, Mastroianni. Ich bin in einer Bar in der Via Marsala, hinterm Hauptbahnhof. Kommt einfach hierher.«
Eigentlich hätte er Ramona Iordanescu lieber in einer etwas vertraulicheren Umgebung befragt, aber sie hatten keine Zeit zu verlieren. Eine offizielle Vernehmung in der Kaserne oder im Büro war ohne Staatsanwalt ausgeschlossen, also saßen sie
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