Du bist das Boese
sah er ihn ohne Talar.
Paul begrüßte ihn herzlich und führte ihn zur Rückseite des Hauses. Der Baum, unter dem sie beim ersten Mal geplaudert hatten, war gewachsen. Darunter standen drei Stühle, ein Tischchen mit Gläsern und Mineralwasser, einem Palm im neuesten Design und einer Schachtel Zigaretten.
»Ich hätte nicht gedacht, dass Sie nach all der Zeit noch hier sind«, bemerkte Balistreri, als sie saßen.
»Meinen Sie mit ›hier‹ Rom oder San Valente?«
»Eigentlich beides. Wenn ich mich recht entsinne, waren Sie als junger Mann sehr reiselustig.«
Paul lächelte, aber nicht mehr auf die jungenhafte Art. Er lächelte wie ein Erwachsener, der sich selbst und seinen Platz im Leben kannte. Und sein Italienisch war mittlerweile perfekt.
»Sie haben recht, Dottor Balistreri. Wenn ich zurückschaue, bin ich selbst ein bisschen überrascht. Jedes Jahr wollte ich weg, und jedes Jahr baten sie mich zu bleiben. Mit der Zeit wurde San Valente zu der Welt, die ich entdecken wollte. Die Waisen und die Mitarbeiter kommen aus aller Herren Länder, ich musste mich also gar nicht fortbewegen.«
Das Vogelgezwitscher in den Bäumen vermischte sich mit den fröhlichen Stimmen der Kinder im Haus.
»Wie viele sind es?« Balistreri zeigte auf das Gebäude.
»Vor zehn Jahren haben wir die Anzahl der Zimmer verdoppelt. Im Moment wohnen hier dreißig Kinder zwischen zehn und vierzehn Jahren und zwei Betreuer, die sich mit der Nachtschicht abwechseln. Aber wir haben Dutzende solcher Einrichtungen, über alle Kontinente verstreut.«
»Und um all das hier kümmern Sie sich?«
»Nein, nein. Ich bin nur für Auswahl und Ausbildung der ehrenamtlichen Helfer zuständig. Und für die Verwaltung von San Valente.«
Paul nahm eine Zigarette aus der Schachtel und bot Balistreri eine an. »Rauchen Sie nicht auch?«
Balistreri beobachtete, wie Padre Paul, der kalifornische Gesundheitsapostel, die Zigarette ansteckte und daran zog, mit der sicheren und entspannten Haltung eines Menschen, der dort angekommen ist, wo er immer hinwollte. Und er konnte nicht widerstehen, obwohl es schon die vierte Zigarette an diesem Tag war und sein Magen langsam aufbegehrte.
»Und seine Eminenz?«, fragte Balistreri.
»Cardinale Alessandrini?« Paul lächelte. »Er ist der wahre Urheber dieses Wunders. Ohne sein Durchsetzungsvermögen hätte es nicht einmal der Vatikan geschafft, diese Waisenkinder aus ihrer Hölle zu befreien. Mittlerweile genießt das Projekt weltweite Anerkennung.«
»Ist er noch in Rom?«
Paul zeigte in Richtung Petersdom, der in der Ferne zu sehen war. »Cardinale Alessandrini gehörte nie zu den Menschen, die es ins Rampenlicht zieht. Er hat es immer vorgezogen, Entscheidungen zu treffen, ohne in Erscheinung zu treten. Heute ist er einer der wichtigsten Berater des neuen Papstes, aber er wohnt immer noch in der Via della Camilluccia.«
Paul beschrieb ihm Cardinale Alessandrinis Projekt voller Enthusiasmus und in sämtlichen Details. Wie viele Kinder sie schon aus unwürdigsten Verhältnissen gerettet hatten. Welche Diktatoren sich schließlich der Autorität und Entschiedenheit dieses Kämpfers gebeugt hatten, sodass ausgebeutete und misshandelte Waisenkinder, diese Opfer korrupter und unmoralischer Regime, irgendwann auswandern konnten. Und welch großen Einfluss er auf den Papst hatte.
Als sein Palm klingelte, ging er dran und wandte sich dann sofort an Balistreri. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Dottore, habe ich noch eine kleine Überraschung für Sie. Als ich Valerio erzählte, dass Sie kommen, hat er …«
»Valerio?«, fragte Balistreri verwundert. »Valerio Bona?«
»Ja sicher. Vielleicht können Sie sich nicht daran erinnern, aber schon damals hat er gelegentlich hier ausgeholfen.«
»Ich erinnere mich sehr gut. Ich hätte nur nicht gedacht, dass er immer noch hier mitmischt.«
»Valerio hat seinen Abschluss in Informatik gemacht, ist für ein paar Jahre bei IBM eingestiegen und dann wieder zu uns zurückgekehrt.«
»Zu Ihnen? Was ich nicht verstehe, ist …«
»Dottor Balistreri, die Organisation, die Cardinale Alessandrini auf die Beine gestellt hat, ist gewachsen. Die Führung der Geschäfte ist inzwischen so komplex wie die eines internationalen Konzerns. Wir haben Tausende Waisenkinder, Hunderte ehrenamtliche Mitarbeiter, einige Dutzend Angestellte und über zwanzig Einrichtungen im Ausland. Valerio Bona betreut unser EDV -System.«
Balistreri konnte sein Erstaunen kaum verbergen. »Und ich dachte
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