Du bist das Boese
»Nein. Ich hatte ihr gesagt, wenn ich bis halb sieben nicht hereinschaue, ist alles in Ordnung, und sie kann nach Hause gehen.«
»Ich habe heute mehrmals mit ihr telefoniert«, sagte die Mutter. »Um kurz nach fünf habe ich sie noch einmal im Büro angerufen. Da hat sie gesagt, dass Dottor Dioguardi auf dem Weg zum Kardinal sei, und wenn es keine Probleme gebe, sei sie um halb acht zu Hause. Als sie dann nicht kam, habe ich mich zwar gewundert, aber ich dachte, sie sei im Büro aufgehalten worden, und weil ich nicht stören wollte, habe ich nicht noch einmal angerufen.«
Sie warf ihrem Mann einen mitfühlenden Blick zu. »Amedeo hätte sie ja abgeholt, aber Elisa wollte ihm keine Umstände machen. Um acht Uhr war ich dann so beunruhigt, dass ich doch im Büro anrief, aber es ging niemand an den Apparat. Und nun wissen wir nicht mehr weiter …«
»Ich bin ein Freund von Dioguardi und arbeite bei der Polizei«, schaltete ich mich ein, krampfhaft bemüht, nicht zu lallen. »Vielleicht hat Elisa es sich einfach anders überlegt und sieht sich das Endspiel mit Freunden an?«
Giovanna Sordi starrte mich an, etwas verwirrt wegen meines wenig vertrauenswürdigen Äußeren, aber doch auch erleichtert, weil ich Polizist war. »Dann hätte sie aber doch angerufen, Signor Commissario«, sagte sie respektvoll.
Eltern glauben immer, alles über ihre Kinder zu wissen, dachte ich. Gleichzeitig fiel mir ein, dass die zweite Halbzeit gleich angepfiffen wurde, und so setzte ich eine überaus professionelle Miene auf.
»Sie könnte doch in einem Lokal gelandet sein, in dem es kein Telefon gibt. Das Ende des Spiels sollten wir unbedingt noch abwarten«, entschied ich.
Ich bemerkte einen Anflug von Missmut bei Cardinale Alessandrini, der jedoch schwieg, ebenso wie die armen Eltern.
»Machen wir es so«, sagte der Kardinal. »Sie, Signor Amedeo, fahren jetzt zurück nach Hause, solange noch kein Verkehr ist. Sollte Elisa anrufen oder auftauchen, geben Sie uns Bescheid. Ihre Frau bleibt hier bei mir, bis die Partie vorbei ist. Und sollte Elisa sich dann immer noch nicht gemeldet haben, wird Dottor Balistreri uns sagen, was wir als Nächstes unternehmen.«
Ich war unruhig, aber nicht wegen Elisa Sordi, sondern wegen der Nationalelf. Und betrunken war ich auch. Mit Höchstgeschwindigkeit raste ich zurück zu Paola, während Angelo mit geschlossenen Augen neben mir saß.
Die zweite Halbzeit hatte gerade begonnen.
»Was war denn los?«, fragte mein Bruder Alberto, als wir wieder in den überfüllten Salon kamen. Wie üblich war er der Einzige, der sich Gedanken machte.
»Nichts Schlimmes. Eine von Angelos Angestellten ist nicht nach Hause gekommen. Wahrscheinlich ist sie mit Freunden unterwegs und guckt sich irgendwo das Spiel an, aber die Eltern machen sich Sorgen.«
Alberto warf mir einen strafenden Blick zu, der dem von Cardinale Alessandrini durchaus ähnelte. Aber auch er schwieg.
Gut versorgt mit Wein und Zigaretten, hockte ich mich wieder zu Cristianas Füßen. Die drei Tore für Italien ließen das ganze Land jubeln. Beim dritten Treffer hielt es niemanden mehr am Fernsehgerät. Die Leute stürzten hinaus auf die Straße, auf die Balkone und Terrassen. Hupen und Tröten begleitete das Böllern des Feuerwerks.
Nach dem Schlusspfiff waren bereits Zehntausende unterwegs. Wenige Minuten später kam der Verkehr völlig zum Erliegen. Sogar auf den Autodächern saßen die Leute und kreischten vor Freude, schwenkten Fahnen, tröteten und trommelten. Überall stiegen bunte Rauchsäulen in den Himmel und färbten die Nacht grün, weiß, rot.
Mitten in diesem ohrenbetäubenden Lärm klingelte das Telefon. Als Angelo zum Apparat ging, überkam mich schon ein komisches Gefühl. Alberto sah mich an. »Macht euch gleich auf den Weg, wenn sie immer noch nicht zu Hause ist.« Sein Ton war ruhig, duldete aber keine Widerrede. Es war der Ton, den mein Vater immer angeschlagen hatte, als ich noch klein war. Du musst lernen, Verantwortung zu tragen, Mike .
»Der Kardinal sagt, wir sollen mit dem Büroschlüssel kommen.« Angelo war jetzt weniger betrunken als besorgt.
Bei dem Chaos auf der Straße konnten wir unmöglich das Auto nehmen, aber es war ja nicht weit. Wir machten uns also zu Fuß auf den Weg durch die feiernden Massen, schubsend, stoßend und drängelnd wie alle anderen auch. Eine absurde Situation, zwei betrunkene Gestalten, die inmitten dieser unbändigen Freude hin und her geworfen wurden.
Wir brauchten zwanzig Minuten.
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