Du bist das Boese
retten.«
Der Polizeipräsident und der Staatsanwalt kamen überein, die Ermittlungen im Fall Sordi sofort wieder aufzunehmen. Und Gina Giansanti zu befragen, die mittlerweile vierundachtzig war. Ihre Tochter Franca, Fiorellas Mutter, teilte ihnen mit, dass die alte Dame krank sei und vor über zwanzig Jahren nach Apulien zurückgezogen sei, in einen Vorort ihrer Heimatstadt Lecce. Balistreri und Fiorellas Mutter wurde für den nächsten Vormittag ein Flugzeug der Luftwaffe zur Verfügung gestellt.
Balistreri verließ das Regina Coeli kurz vor Mitternacht. Mindestens dreißig Zigaretten hatte er geraucht und ein Dutzend Kaffees getrunken. Er war physisch und seelisch am Ende. Es war anstrengend, Marius Hagi auszuhalten, ohne sich zu wehren. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, in seinem Kopf herrschte wildes Chaos.
Wahrscheinlich küsst er sie gerade auf der Terrasse, wo ich gezögert habe. Und dann trägt er sie zum Bett …
Der Fußmarsch vom Regina Coeli nach Hause führte ihn durch das Chaos von Trastevere, das freitagabends noch größer war als sonst. Hupende Autos, laut plärrende Musik, Eiswaffeln, junge Leute, die mit Bierflaschen in der Hand zwischen den Autos hindurchschlenderten. Doch er sah und hörte nichts, und der Tunnel, in dem er steckte, hatte nur einen einzigen Ausgang.
Was, wenn er noch ein Mädchen einritzt? Diese Frage hatte Linda Nardi ihm gestellt, als sie zum ersten Mal gemeinsam zu Abend gegessen hatten, am 30. Dezember 2005. Es war höchste Zeit herauszufinden, wie sie darauf gekommen war.
Halte deine Wut aus den Ermittlungen raus. Bleib stehen, Michele. Solange es noch geht.
Doch seine Füße trugen ihn wie von selbst zu ihrem Haus. Als er vor der Tür ankam, war Mitternacht gerade vorbei. Er sah nach oben, ihre Fenster waren schwach erleuchtet. Er hatte noch die Schlüssel, die sie ihm gegeben hatte. Keuchend stieg er die Treppe hoch.
Die Tür zu Linda Nardis Wohnung war die einzige auf der Etage. Das Schloss funkelte, offensichtlich war es neu. Er klingelte und hörte Schritte zur Tür kommen. Am liebsten wäre er weggelaufen, doch er blieb wie angewurzelt vor dieser Tür stehen, wie ein zum Tode Verurteilter vor dem Exekutionskommando.
»Wer ist da?«, fragte Lindas Stimme.
»Ich bin’s.«
Kurze Stille, dann öffnete Linda die Tür einen Spalt. Sie hatte die Kette vorgelegt.
Ihr Gesicht war nicht überrascht, nur traurig. »Was willst du, Michele?«
»Wir müssen reden. Jetzt.«
Er sah, wie sich sofort die vertikale Falte in ihre Stirn grub. Nein, niemals, hätte sie sagen können. Oder auch, nicht jetzt, lass uns morgen reden. Aber dann wäre es nicht Linda Nardi gewesen.
Sie kann dich aus ihrem Leben aussperren, aber sie kann dich nicht vor der Tür stehen lassen.
Sie löste die Kette und öffnete die Tür. Mitten in dem kleinen Wohnzimmer, das nur schwach von einer Tischlampe erleuchtet wurde, stand Angelo Dioguardi. Die Haare noch zerzauster als sonst, die Augen müde, tiefe Falten im Gesicht.
»Er soll gehen«, sagte Balistreri zu Linda.
Ohne ihre Antwort abzuwarten, schob sich Angelo an ihm vorbei zur Tür. Als er ihn streifte, spürte Balistreri, dass er kurz zögerte, als wollte er etwas sagen, ein letzter Klärungsversuch. Doch es vermischte sich nur ihr Schweigen, dann ging Angelo und zog die Tür hinter sich zu.
Linda musterte ihn mit verschränkten Armen. Sie war nicht wütend.
»Ich höre, Michele.«
Sie war so schön. Er hatte sie noch nie so anziehend gesehen. Die fast bis zum Hals zugeknöpfte Bluse, hinter der sich ihr Busen versteckte, den er sich schon so oft vorgestellt hatte, aber erst jetzt berühren und liebkosen wollte. Die übliche weite, aber dadurch umso raffiniertere Hose, in die er sofort hineinfassen wollte. In der vielleicht noch vor wenigen Minuten Angelos Hände verschwunden waren.
Das monatelang aufgestaute Begehren explodierte mit so brutaler Kraft, dass ihm schwindelte. Seine Knie gaben nach. Dabei hätte er sie jetzt küssen müssen. Er hätte ihr sagen müssen, dass er sie nicht verstand, ihr aber vertraute. Er hätte ihr versprechen müssen, dass er alles für sie tun würde, egal, was, auch wenn er den Sinn nicht durchschaute. Hätte er müssen. Wollte er aber nicht. Nicht mehr. Linda Nardi war nur noch eine Frau, die er begehrte. Eine Frau aus Fleisch und Blut, die ihn weggejagt hatte, um sich seinem besten Freund in die Arme zu werfen.
Überrascht hörte er seine eigene raue Stimme reden. »Wer hat dir von der
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