Du bist das Boese
verstarb, war Fiorella dreizehn Jahre alt. Cardinale Alessandrini steckte sie in ein Internat, wo sie pädagogisch betreut wurde. Danach ging Fiorella nach Mailand und studierte an der Katholischen Universität. Erst vor Kurzem hatte sie eine Anstellung bei einer Bank in Rom gefunden.
Balistreris Gedanken sprangen hin und her zwischen Linda Nardi und Fiorella Romani, die ohne Wasser und Nahrung in einer verlassenen Hütte eingesperrt war, wo man sie nach einem qualvollen Tod finden würde.
Auf dem Flughafen erwartete sie ein Streifenwagen mit zwei Beamten. Sie durchquerten die prächtige barocke Innenstadt von Lecce, die sich in der vormittäglichen Sonne schon aufgewärmt hatte. Es herrschte Wochenendverkehr, und Balistreri befahl, das Blaulicht einzusetzen.
»Meine Mutter hat es am Herzen. Deshalb haben wir ihr nicht gesagt, was mit Fiorella geschehen ist.«
Er erinnerte sich noch sehr gut, wie wortkarg und dickfellig die fromme Pförtnerin war. Es würde nicht einfach werden. »Wenn sie nicht mit uns zusammenarbeitet, müssen wir es ihr möglicherweise sagen, Signora Franca.«
Sie hielten vor einer Reihenhaussiedlung in einem ruhigen Vorort von Lecce. Franca klingelte, und Signora Gina öffnete ihnen die Tür. Ihr strenges, verschlossenes Gesicht war im Alter ganz runzelig geworden. An den Augenringen, dem Zittern und den geschwollenen Knöcheln sah man, dass es ihr nicht gut ging.
Die Wohnung war voller Kruzifixe und Fotos: Padre Pio, der Papst, Cardinale Alessandrini, daneben zahlreiche Bilder von Verwandten und von ihrer Enkeltochter Fiorella. Erinnerungen an ein Leben, das sich schon bald in einen Scherbenhaufen verwandeln könnte.
»Es wundert mich nicht, dass Sie zu mir kommen, nach dem Selbstmord von Elisas Mutter«, sagte Gina Giansanti. »Wollen Sie mich verhaften?«
»Ich bin gekommen, um mit Ihnen über Elisa Sordi zu reden, nicht, um Sie zu verhaften. Obwohl ich den Verdacht hege, dass Sie etwas vergessen haben könnten, als wir vor vierundzwanzig Jahren miteinander geredet haben.«
»Und dieser Verdacht kommt Ihnen nach so langer Zeit?«, antwortete Signora Gina mit gewohnter Strenge.
Franca schaltete sich ein. »Mama, hast du im Fernsehen von dem Rumänen gehört, der den Polizeichef und all die Frauen getötet hat?«
»Sicher. Und dieses Tier hat ja offenbar auch zugegeben, Elisa Sordi ermordet zu haben.«
»Nein, Mama. Er sagt, er hat alle ermordet außer Elisa.«
Signora Ginas Gesicht wurde noch runzeliger. »Was hat dieser Zigeuner denn dann damit zu tun?«
»Er hat für Conte Tommaso dei Banchi di Aglieno gearbeitet«, antwortete Balistreri.
»Der Conte …«, murmelte Gina, die immer noch den alten Groll hegte. »Nur einer wie der ist imstande, einer solchen Bestie Arbeit zu geben.«
»Den Conte trifft keine Schuld. Er wusste nicht, was für ein Mensch Hagi ist. Aber ich bitte Sie, versuchen Sie sich zu erinnern, ob es irgendetwas gibt, das Sie uns nicht gesagt haben.«
»Nein«, antwortete Gina Giansanti entschieden. »Es gibt absolut nichts, das ich Ihnen nicht gesagt hätte.«
Balistreri schaute zu Franca Giansanti, die auf ihren Lippen herumkaute.
»Mama, es ist sehr wichtig. Schwöre beim Leben von Fiorella, dass du Dottor Balistreri nicht das Geringste verschweigst.«
Gina Giansanti rebellierte gegen ihre Tochter. »Was erlaubst du dir denn, von mir zu verlangen, beim Leben von Fiorella zu schwören?«, zischte sie mit der ganzen Empörung und Autorität einer Mutter aus dem Süden.
»Wenn du lügst, wird Fiorella sterben«, antwortete Franca.
Balistreri sah, wie der weiße Schatten des Todes Signora Gina verwandelte. Der Schmerz, den Marius Hagi seinen Opfern noch aus dem Gefängnis heraus zufügte, war grenzenlos, und Balistreri war sein Werkzeug.
»Ich verstehe nicht, Franca …«, stotterte sie, plötzlich nur noch eine zittrige, herzkranke Alte.
Franca brach in Tränen aus. »Dieser Mann hat Fiorella entführt und irgendwo versteckt, Mama. Und er hat gesagt, dass er sie sterben lässt, wenn du uns nicht die Wahrheit sagst.«
Gina Giansanti brach zusammen. »O mein Gott, Allmächtiger, hab Mitleid mit mir.« Sie umarmte ihre Tochter und weinte lautlos.
Balistreri sah die Tränen der beiden kleinen Frauen, ihre vom Schmerz gebeugten Körper, die knochige Hand der einen, die sich in die Schulter der anderen krallte. Er erinnerte sich noch, wie sich die beiden an einem verregneten Morgen vor dem Gittertor der Via della Camilluccia in den Armen gelegen hatten und
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