Du bist das Boese
erzählte weiter. »Ich versteckte mich hinter der Ecke. Paul kam angerannt, wahrscheinlich hatten Sie kurz zuvor mit ihm geredet. Er stieg zusammen mit Gina Giansanti, die zur Messe wollte, in seinen Käfer, und sie fuhren fort.«
Während ich zu ihrem Fenster hinaufstarrte und mich nicht traute.
»Die Haustür der Villa B stand offen. Ich ging hinein. Der Fahrstuhl war besetzt, weil Sie damit auf dem Weg nach oben waren, Dottor Balistreri. Ich wartete eine Weile, ziemlich unsicher. Dann entschloss ich mich und ging zu Fuß in die zweite Etage.«
Valerio Bona hielt inne. Auf seinem Gesicht spiegelte sich das Grauen dieser Erinnerung.
»Ich wusste, dass Elisa mich nicht reinlassen würde, aber die Tür zum Verwaltungstrakt war nicht geschlossen, nur angelehnt. Ich trat in den Flur und wunderte mich gleich über die Stille. Ich dachte, sie sei vielleicht Zigaretten holen gegangen und habe die Tür deshalb offen gelassen. Vor ihrem Büro zögerte ich.«
Er unterbrach sich, um Luft zu holen. Und noch bevor Valerio weiterredete und diese Tür öffnete, die vierundzwanzig Jahre lang verschlossen gewesen war, begriff Balistreri, dass der Fehler, den er an jenem Tag begangen hatte, sehr viel schlimmer war, als er in all dieser Zeit geglaubt hatte. Das Gespenst, das er flüchtig gesehen hatte, als er über Linda Nardi hergefallen war, bekam nun vage Konturen.
»Wenn ich nicht hineingegangen wäre, hätte mein Leben einen ganz anderen Lauf genommen. Ich wäre bei IBM geblieben, hätte geheiratet und eine Familie gegründet. Aber ich wollte mit ihr reden, ich war verzweifelt. Also ging ich hinein. Elisa lag vor der Wand auf dem Boden. Ihre Bluse und ihr BH waren zerrissen, ihre Brust war voller Blut. Ihr eines Auge war geschwollen und ganz schwarz, ihre Lippe aufgerissen, und auf der einen Wange hatte sie einen Bluterguss. Ich ging nicht näher ran, blieb aber einen kurzen Moment dort stehen. Dann zog ich die Tür hinter mir zu und rannte weg. Eine Minute später saß ich auf meinem Roller.«
Der Staatsanwalt sah Balistreri skeptisch an. Und Balistreri sah Valerio Bona an. Er empfand keinerlei Mitleid für ihn. Was er spürte, war lediglich Wut. Hätte er an diesem verfluchten Tag doch nur Augen, Ohren und ein Herz gehabt.
Er schüttelte die sinnlosen trüben Gedanken ab. Fiorella Romani retten. Das war das einzig Wichtige jetzt. Die Richtung war vorgezeichnet. Er musste nur alle fortschaffen, die im Weg standen.
»Es gibt zwei Möglichkeiten, Signor Bona. Entweder Sie lügen und haben Elisa Sordi zwischen halb sieben und acht außerhalb ihres Büros umgebracht. Oder Sie sagen die Wahrheit. In diesem Fall sollten Sie wissen, dass der Täter schon seit Jahren im Gefängnis sitzen könnte, wenn Sie damals gleich ausgesagt hätten.«
»Ich weiß, und das hat mich wirklich sehr belastet. Ich war einfach schockiert. Und irgendwann auch zunehmend verwirrt. Ihre Leiche wurde im Tiber gefunden, und dann sagte die Pförtnerin plötzlich, dass Elisa erst um acht gegangen sei. Ich glaubte schon fast an Halluzinationen.«
Hast du diese Schuld gebeichtet? Hat dir ein Priester die Absolution erteilt? Wie viele Vaterunser und Ave-Maria waren es? Meinst du, das reicht für einen Platz im Paradies?
All der Groll, den Balistreri auf jene hegte, die ihn jahrelang getäuscht und in den Käfig der Schuld gesperrt hatten, ergoss sich über Valerio Bona. Als könnte er die vertane Lebenszeit zurückholen, indem er ihn fertigmachte.
»Ich hoffe, Sie lügen, Signor Bona. Das hoffe ich in Ihrem eigenen Interesse. Wenn nämlich wahr ist, was Sie da sagen, hat Ihr Schweigen vier Mädchen, einen jungen Senegalesen und vier Polizisten das Leben gekostet und die Selbstmorde von Manfredis und Elisas Mutter verursacht.«
Valerio sah ihn wie versteinert an. Seine Hände mit den abgekauten Fingernägeln suchten verzweifelt nach dem Kreuz. Seine Augen starrten ins Leere.
Die Anwältin schaltete sich ein. »Mein Mandant könnte allenfalls wegen einer Falschaussage im Fall Elisa Sordi angeklagt werden. Mit dem Rest hat er nichts zu tun.«
Keine Spur mehr von Umsicht, Ausgeglichenheit und Reue. Nur noch kontrollierte Wut und Fiorella Romani.
»Sicher, Avvocato. Juristisch mag das so sein«, Balistreris Stimme war eisig. »Aber Ihr Mandant ist praktizierender Katholik und glaubt an das Jüngste Gericht, ans Paradies und an die Hölle.«
Was er nun tat und vierundzwanzig Jahre zuvor völlig unbekümmert getan hätte, wäre ihm bis zu Giovanna Sordis
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