Du bist das Boese
auf die geschundene Brust. Auch als Balistreri über sie hergefallen war, hatte sie ihren Busen bedeckt, nicht ihre Scham. »Irgendwann ließ er von mir ab, und ich schaffte es bis zur Notaufnahme. Der Polizei sagte ich, eine Gruppe von Drogensüchtigen habe mich überfallen. Nur meiner Mutter erzählte ich, was wirklich geschehen war.«
»Warum habt ihr ihn nicht angezeigt?«
»Ich war damals oft bekifft, ein orientierungsloses Mädchen, das sich mit praktisch jedem einließ. Nur ihn hatte ich abgewiesen, den Sensibelsten, den Einzigen, der mich wirklich mochte. Und weißt du, warum? Wegen seiner Visage.«
»Das war dein gutes Recht, Linda. Es war deine Entscheidung.« Endlich drehte sie sich zu Balistreri um und sah ihn an. »Sicher, es war meine Entscheidung. Er hatte allerdings nicht die Möglichkeit, sich zu entscheiden, weder damals noch heute.«
»Hast du nie daran gedacht, dass er das auch mit anderen Mädchen machen könnte?«
»Anfangs nicht, deshalb habe ich keine Anzeige erstattet. Als ich dann im Fernsehen sah, dass er wegen des Mordes an Elisa Sordi verhaftet worden war, wollte ich ihn doch anzeigen. Aber dann brachte sich seine Mutter um, und es hieß, das Ganze sei ein Irrtum gewesen. Ich wollte ihm nicht noch mehr Leid zufügen.«
»Und er hat sich nie mehr bei dir gemeldet?«
»Nein. Manfredi ging nach Afrika, und ich versuchte, zu vergessen und mein Leben weiterzuleben. Meine Mutter hat mir sehr geholfen damals. Jahrelang habe ich Manfredi nicht als Monster, sondern als Opfer gesehen. Als mein Opfer.«
Inzwischen kannte er Linda Nardi. Sie hatte akzeptiert, was Manfredi ihr angetan hatte, mit der Nachsicht der heiligen Agnes.
»Dann kam er zurück«, sagte Balistreri.
Linda nickte. »Vor einem Jahr, am Tag nach Samantha Rossis Tod, fand ich einen Zettel in meinem Briefkasten. Darauf stand nur: ›Ich bin wieder da‹.«
Der einzige Fehler des Unsichtbaren. Es war einfach stärker gewesen als er, stärker als das Risiko, das er damit einging. Er, der Unbesiegbare, musste Linda Nardi Panik einjagen. Sie war seine erste Niederlage gewesen. Mit ihr hatte sein Verderben begonnen.
»Aber warum hast du ihn dann immer noch nicht angezeigt?«, wandte Balistreri ein.
»Anfangs war ich mir nicht sicher, ob er es wirklich war. Du wolltest mir ja nicht sagen, ob man Samantha eingeritzt hatte. Ich beauftragte einen Detektiv, Nachforschungen über ihn anzustellen, und der fand heraus, dass sich Manfredi, als Samantha und Nadia ermordet wurden, nicht in Italien aufhielt.«
»Als ich dir dann aber erzählte, dass Ramonas Freier den Schwanz nicht hochbekam, warst du dir sicher«, erinnerte sich Balistreri.
»Ja. Und als du auch noch erwähntest, dass Alina Hagi ebenfalls damals starb, musste ich wieder an Elisa Sordi denken. Nach Giovanna Sordis Selbstmord war mir klar, dass man ihn aufhalten musste. Ein für alle Mal.«
Denn du bist ebenso entschieden wie nachsichtig. Ich hätte ihn verhaftet, aber du wolltest ihn tot.
Wieder las sie seine Gedanken. »Sein Vater hätte es so gedreht, dass er in der Psychiatrie landet, statt im Knast. Und danach wäre er wieder nach Afrika abgehauen und hätte noch mehr Frauen umgebracht.«
Balistreri sah zu Angelo Dioguardi. »Also hast du Angelo gebeten, dir zu helfen.«
»Allein konnte ich das nicht. Ich hab Angelo die Situation erklärt und ihm alles erzählt. Aber es war allein meine Idee. Ihn trifft keine Schuld.«
Angelo wollte widersprechen, aber sie fuhr fort.
»Er hat sich darauf eingelassen, und wir haben unsere Vorkehrungen getroffen. Angelo war immer bei mir. Wir haben darauf gewartet, dass Manfredi sich irgendwie bemerkbar macht. Als heute der Anruf von Padre Paul kam, haben wir gleich verstanden. Angelo verließ das Haus, damit Manfredi ihn sah, ist dann aber durch die Tiefgarage gleich wieder rein und hat sich in der Küche versteckt.«
Balistreri schloss die Augen. Vorsätzlicher Mord. Selbst bei mildernden Umständen mussten die beiden mit mehrjährigen Haftstrafen rechnen.
Das kam für Balistreri keine Sekunde infrage. Wie auch immer Gott, wenn es ihn denn gab, über Manfredi richten würde, und egal, welches Unrecht er hatte erleiden müssen, durch Balistreri selbst, durch Linda Nardi, durch Dioguardi: Manfredi hatte vierundzwanzig Jahre zu lang gelebt und in dieser Zeit viele Menschen getötet. Angelo Dioguardi und Linda Nardi hatten getan, was er selbst hätte tun müssen, wenn er denn noch den Mumm gehabt hätte.
Balistreri und Corvu
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