Du bist das Boese
den Hass eines ganzen Lebens versprühten.
»Der erste Buchstabe ist ein Y, und du bist längst tot, Balistreri!«
Dann schoss er. Es war sechs Uhr fünfunddreißig.
Um sechs Uhr fünfunddreißig prüfte der Unsichtbare noch einmal sorgfältig die Pistole, die erst kürzlich benutzt worden war, das Skalpell für die Einritzungen, an dem noch Ajellos Blut klebte, und den Generalschlüssel. Er hatte fünfundvierzig Minuten, um einen Einbruchdiebstahl vorzutäuschen. In einem Plastiktütchen befanden sich die Haare und die Fingernagelstückchen, die Hagi im Casilino 900 besorgt hatte.
Er trug Latexhandschuhe und eine Haube, wie ein Chirurg. Eigentlich waren diese Vorsichtsmaßnahmen überflüssig, da niemand auf die Idee kommen würde, an diesem Ort ausgerechnet seine DNA zu suchen. Er brach zu seiner letzten Mission auf. Die Haustür zu öffnen, war ein Klacks. Er ging zu Fuß nach oben. Jeder Schritt auf dieser Treppe entfernte ihn von dem alten unerträglichen Schmerz und brachte ihn dem Leben näher.
Hätte ich auch weiter getötet, wenn es bei ihr anders gelaufen wäre? Anfangs habe ich mich das oft gefragt. Nach all den Jahren weiß ich nicht einmal mehr, wie viele es waren, und die Frage, die sich mir nun stellt, ist eine andere: Wäre ich ein besserer Mensch, wenn ich nur die eine getötet hätte, in einem einzigen Anfall von Wahnsinn?
Während Corvu und die anderen Polizeibeamten das Haus durchsuchten und Piccolo sich um Fiorella Romani kümmerte, informierte Balistreri den Polizeipräsidenten, der schon einen Hubschrauber für ihre Rückkehr hatte bereitstellen lassen, um das Ganze zu beschleunigen. Wenige Minuten später, um sechs Uhr fünfundvierzig, waren er, Corvu, Piccolo und Fiorella Romani in der Luft.
Der Himmel hatte sich zugezogen, und es nahte eines dieser Gewitter, die er mit den Jahren lieben gelernt hatte. Der plötzliche Sommerschauer erinnerte ihn aber auch an einen anderen Regen, jenen im kalten Morgengrauen des Tages, da sich Ulla dei Banchi di Aglieno von der Terrasse gestürzt hatte.
Balistreri war unruhig. Er setzte den Kopfhörer auf und streckte sich auf seinem Sitz aus. Von oben konnte er sehen, wie die Strandgäste auf der Suche nach einem Unterschlupf durch den prasselnden Regen rannten.
Der erste Buchstabe ist ein Y. Und der letzte hat nichts mit Fiorella Romani zu tun. Y O U A R E E V I ?
Plötzlich fiel ihm wieder ein, wo er diesen Schriftzug schon einmal gesehen hatte: YOU ARE EVIL – DU BIST DAS BÖSE .
Wir hätten suchen müssen, wo ich es vermutet hatte, von Anfang an. Schon 1982.
»Linda«, seufzte er. »Linda.«
Tot, aber noch am Leben, Balistreri. Deine ewige Strafe.
Um sechs Uhr vierzig hatte sich der Unsichtbare problemlos eingeschlichen. In der Wohnung war es vollkommen still.
Die untergehende Sonne schien durch die Terrassentür. Dort draußen saß sie, mit dem Rücken zu ihm, und sah in Richtung Petersdom.
»Ciao, Linda«, sagte der Unsichtbare. Vierundzwanzig Jahre lang hatte er darauf gewartet, zu seinem ersten Opfer, dem mit dem Y, noch einmal diese zwei Wörter sagen zu können.
Sie drehte sich langsam um, mit ruhiger Miene. »Ciao, Manfredi.«
Sie hatte die Fotos gesehen, auf denen er, mit seinem schönen operierten Gesicht, im weißen Kittel die Krankenstation in Nairobi eingeweiht hatte, am Morgen des ersten Weihnachtstages, wenige Stunden nachdem er in Rom Nadia getötet hatte.
Als sie ihn im Internat Carlo Magno kennengelernt hatte, war er ein intelligenter Junge gewesen, sensibel und allein wie sie selbst. Zutiefst gedemütigt durch seine Verunstaltung und einen übermächtigen Vater und damit genauso verletzlich wie sie, die nie einen Vater gehabt hatte. Ein verzweifelter junger Mensch auf der Suche nach einer Liebe, für die es sich zu leben lohnt.
In all den Jahren hatte Linda oft darüber nachgedacht.
Hätte Manfredi auch weiter getötet, wenn es beim ersten Mal anders gelaufen wäre? Wenn ich ausschließlich darauf geschaut hätte, wie intelligent und sensibel er war, und ihn nicht wegen seines Aussehens abgewiesen hätte?
In den vergangenen zwölf Monaten hatte sie allerdings begriffen, dass sich, wie auch immer sich Manfredis Gesicht verändern mochte, nichts an der Person ändern würde, zu welcher dieser einsame Junge geworden war. Ein Samariter hilfsbedürftiger Afrikaner und ein Mörder unschuldiger Frauen. Aus dem Monster, das so gern ein schöner Prinz gewesen wäre, war ein schöner Prinz geworden, der ein Monster in sich
Weitere Kostenlose Bücher