Du bist das Boese
Mastroianni wollte.
Balistreri hatte nur zwei Stunden geschlafen, und in dieser kurzen Zeit hatten ihn noch Träume voller unbeantworteter Fragen geplagt. Kräftezehrende Träume. Er frühstückte koffeinfreien Kaffee und Vollkornzwieback und ging dann im kalten Nieselregen zu Fuß ins Büro.
Pünktlich um halb acht betrat Corvu sein Büro, gefolgt von Piccolo, die einen etwas zu unterwürfigen Eindruck machte.
»Haben Sie einen Unterschlupf für Rudi gefunden?«, fragte Balistreri unvermittelt.
Piccolo war überrumpelt. Sie errötete und sah Hilfe suchend zu Corvu hinüber, der ihr wie ein alter weiser Onkel zur Seite sprang.
»Für unseren Zeugen ist bestens gesorgt, Dottore. Piccolo hat ihn bei sich zu Hause aufgenommen. Dort ist er in Sicherheit.«
Balistreri war verärgert. »Wirklich tolle Idee, gratuliere. Ein Homosexueller mit Verbindungen zu einer Verbrecherbande nächtigt in der Wohnung von meinem Vicecommissario. Der noch dazu dem weiblichen Geschlecht angehört.«
Du bist eine alte Nervensäge, Balistreri. Und sie ist nicht deine Tochter.
»Eben weil es sich um einen Homosexuellen handelt, hielten wir Piccolos Wohnung für passender als meine«, fuhr Corvu fort, und bevor Balistreri etwas entgegnen konnte, wechselte er das Thema. »Dottore, der Zwerg wartet draußen. Er möchte uns über seine Befragung der Prostituierten berichten.«
Sie holten Coppola dazu.
»Also«, begann der Zwerg. »Ich bin etwas in Verlegenheit, weil ich nicht viel herausfinden konnte.«
»Lass hören«, ermunterte Balistreri ihn.
»Ich habe mit den vier Mädchen geplaudert, die am Abend des 24. kurz vorher beziehungsweise kurz nachher an der Stelle standen, wo Ramona und Nadia immer auf Kundschaft gewartet haben. Ich habe mich erkundigt, was sie anbieten, zu welchem Preis und so weiter. Irgendetwas halt, um das Eis zu brechen.«
»Verschone uns mit den Einzelheiten, Coppola«, sagte Balistreri. »Hast du etwas herausgefunden?«
»Als ich damit rausrückte, dass ich von der Polizei bin, waren sie erst ein bisschen sauer. Dann habe ich ihnen aber versprochen, einen unglücklichen jungen Kollegen vorbeizuschicken, und das hat sie wieder besänftigt.« Er richtete einen kurzen Blick auf Corvu.
»Coppola …« Balistreri verlor die Geduld, und der Zwerg redete schnell weiter.
»Zwei Dinge habe ich erfahren. Erstens, zu ihrer eigenen Sicherheit überwachen die Mädchen sich gegenseitig, indem sie die Nummernschilder ihrer Freier notieren. Zweitens, am Abend des 24. war nur sehr wenig los. Weihnachten zu einer Nutte zu gehen, gilt als Todsünde …«
»Hör zu, Coppola, wenn du irgendetwas Nützliches herausgefunden hast, dann sag es. Ansonsten haben wir alle genug anderes zu tun«, schimpfte Balistreri.
»Sie haben Nadia mit niemandem wegfahren sehen, und ihnen ist auch nichts Verdächtiges aufgefallen. Nur eine Sache. Ein Mädchen hat mir von einem Auto erzählt, das einen kaputten Scheinwerfer hatte und von Weitem aussah wie ein Motorrad.«
»Und würde sie den Fahrzeugtyp wiedererkennen?«, fragte Corvu interessiert.
»Sie hat das Auto nicht selbst gesehen, sondern ihre Cousine. An dem Abend war ihre eigentliche Kollegin nicht da, deshalb war ihre Cousine mit.«
»Okay, bestell sie her, dann rede ich mit ihr. Vielleicht können wir mit dem CAD ein Phantombild von dem Auto erstellen«, sagte Corvu. »Und die Mädchen auf der anderen Straßenseite?« Sein analytischer Geist verlangte sämtliche Details.
Coppola schüttelte den Kopf. »Die können sich nicht an so etwas erinnern.«
Balistreris Miene verfinsterte sich.
Er hat Nadia einsteigen lassen und gleich das Licht ausgeschaltet. Ein schlechtes Zeichen.
Überall waren junge Leute unterwegs, zu Fuß oder auf Rädern. Als sie bei Ramona klingelten, winkten zwei Studentinnen Mastroianni aufmunternd zu, was der mit einem unverbindlichen Lächeln erwiderte.
Ramona Iordanescu war ein hübsches Mädchen, groß und brünett. Ein frisches, unschuldiges Gesicht auf einem wunderbaren Körper, so hatte er sie auf dem Foto mit Nadia gesehen. Jetzt aber war sie ungeschminkt und trug einen weiten Jogginganzug und einen unförmigen Pullover unter der dicken schwarzen Kunstlederjacke. Ihr Italienisch war recht gut. Sie ließ die Artikel weg, aber die Verben benutzte sie fast immer korrekt.
Beim Anblick des gut aussehenden Italieners mit dem niedlichen Hundeblick war sie etwas verblüfft, freute sich aber über die Einladung in das Café in der Innenstadt. »Ist sehr teuer.
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