Du bist in meiner Hand
nicht fündig. Der Traum war eine Illusion gewesen, eine verlockende Lüge. Sita war nicht im Ashram, und der Lotus musste erst noch zum Blühen ansetzen. Die Sonne ging über einer Zukunft auf, die sie nicht wollte. Lakshmi hatte sie vergessen, Rama sie verlassen. Sie bestand inzwischen aus Stein, genau wie die Ahalya im Ramayana.
Sie musste weinen. Dabei war sie sich des Vogelgesangs rundherum kaum bewusst, und auch die Geräusche des erwachenden Ashrams und der gedämpfte Straßenlärm jenseits des Zauns drangen kaum zu ihr durch. Irgendwann riss sie sich zusammen. Während sie sich wieder hochrappelte, wappnete sie ihr Herz für eine Zukunft ohne Sita.
Nachdem sie ein paar Schritte gegangen war, blieb sie überrascht stehen. Schwester Ruth kam auf sie zugerannt.
Das Gewand der Nonne flatterte hinter ihr her, und ihre Augen glänzten wie die eines Kindes. Als sie vor Ahalya zu stehen kam, rang sie keuchend nach Atem.
»Es tut mir leid«, sagte Ahalya, die das schlechte Gewissen plagte, weil sie so klammheimlich aus dem Haus geschlichen war. »Ich brauchte nur ein bisschen Bewegung.«
Schwester Ruth schüttelte atemlos den Kopf. Jedes Mal, wenn sie nach Luft rang, erzitterte ihre ganze rundliche Gestalt.
»Nein, nein«, stieß sie mühsam hervor, »Sita …«
Ahalya starrte sie gebannt an.
Endlich hatte die Nonne sich so weit gefangen, dass sie dem Mädchen Thomas’ Nachricht übermitteln konnte.
Zum zweiten Mal an diesem Morgen fiel Ahalya auf die Knie, aber dieses Mal füllten sich ihre Augen nicht mit Tränen. Stattdessen richtete sie den Blick nach Westen. Während sie das Gesicht der aufgehenden Sonne entgegenreckte, spürte sie, wie deren Licht in sie eindrang wie ein Samenkorn in den Boden. Es breitete sich in ihr aus, und ihre Haut begann zu prickeln. Plötzlich sprudelte ein Lachen aus ihr hervor. Sie hatte ganz vergessen gehabt, wie gut sich das anfühlte.
Der Traum war wahr: Sita lebte.
Und sie würde bald nach Hause kommen.
Einen Tag später stand Thomas vor einem schicken Washingtoner Wohnkomplex im kalten Regen und nahm seinen ganzen Mut zusammen. Er war erst zweimal in diesem noblen Teil von Capitol Hill gewesen, beide Male nachts. An beide Besuche konnte er sich mit beunruhigender Klarheit erinnern. Die Hand fest um den Griff seines Schirms geklammert, sah er durch den grauen Vorhang aus Regen auf den Eingang. Dort ließ sich noch niemand blicken. Es war Sonntag, morgens um acht – der einzige Zeitpunkt der Woche, an dem er sicher sein konnte, dass er sie zu Hause antreffen würde.
Er fuhr mit dem Aufzug hinauf in den fünften Stock. Ihre Wohnung lag am Ende des Ganges auf der rechten Seite. Nummer 503. Er war so nervös, dass er vor ihrer Tür noch mindestens eine Minute wartete, ehe er schließlich klopfte.
Angestrengt lauschte er, ob Schritte zu hören waren. Da er zunächst nichts vernahm, überlegte er, ob sie womöglich übers Wochenende verreist war oder – noch besser – bei einem neuen Freund übernachtet hatte. Dann aber hörte er sie doch an die Tür kommen. Während er in den Spion starrte, versuchte er sich zu wappnen. Die Wut, die er nach dem Desaster von Goa empfunden hatte, war nur noch eine blasse Erinnerung, an ihre Stelle waren Nervosität und Reue getreten.
Es dauerte noch einen Moment, bis die Tür aufging. Eingehüllt in einen Frotteebademantel stand Tera vor ihm, das nasse Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie sah ihn mit großen Augen an, die Lippen vor Überraschung leicht geöffnet. Zunächst brachte sie kein Wort heraus. Thomas, dessen Herz wie wild klopfte, machte seinerseits auch keine Anstalten, den ersten Schritt zu tun.
»Thomas«, sagte sie schließlich. Weitere Sekunden vergingen, bis sie sich einen Ruck gab und die Tür weiter aufschwingen ließ. »Ich dachte schon, ich würde dich nie wiedersehen.« Mit diesen Worten trat sie zur Seite.
Thomas kam der Einladung nach. Ihre Wohnung war avantgardistisch eingerichtet: alles in Schwarz-Weiß gehalten, klare, harte Linien, abstrakte Bilder an den Wänden, indirekte Beleuchtung, dekorative Kleinigkeiten aus aller Herren Länder. Tera hatte in Columbia einen Abschluss in Kunstgeschichte gemacht, ehe sie nach Chicago gegangen war, um dort Jura zu studieren.
Er trat ins Wohnzimmer und blickte durch die großen Fenster auf die Stadt hinaus. Da der Regen inzwischen etwas nachgelassen hatte, konnte man in den Ferne die unscharfen Umrisse des Kapitols erkennen.
»Wo warst du?«, fragte Tera,
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