Du bist in meiner Hand
Tür gelangte man auf einen Gang, der in eine vollgestopfte Küche führte. Dort standen eine matronenhaft wirkende Inderin in einem Sari und ein etwa zehnjähriger Junge, der Jeans und ein Hemd im Westernstil trug. Die Frau war gerade dabei, den Jungen in einer Sprache auszuschimpfen, die Sita nicht verstand.
Als sie Navin entdeckte, schaltete sie auf Hindi um.
»Wie war es in Bombay?«, fragte sie.
»Heiß, überfüllt und voller Slums«, antwortete er. »Jedes Mal, wenn ich dorthin zurückkehre, mag ich es noch weniger.«
»Sag so etwas nicht«, ermahnte sie ihn. »Es wird immer deine Heimat bleiben.«
Navin plauderte kurz mit der Frau. Der Junge, der Navin keinerlei Beachtung schenkte, betrachtete währenddessen Sita mit den unschuldigen Augen eines Kindes. Sie erwiderte seinen Blick und empfand dabei einen Anflug von Wehmut, weil er einem Jungen aus der Klosterschule ähnelte, der immer ganz vernarrt in sie gewesen war. Diese schöne Erinnerung verflüchtigte sich jedoch so schnell, wie sie ihr in den Sinn gekommen war.
»Kann sie kochen?«, wollte die Frau gerade von Navin wissen.
Navin sah Sita fragend an, doch sie schüttelte den Kopf.
»Ein Mädchen, das nicht kochen kann!«, ereiferte sich die Frau in barschem Ton. »Wozu taugt sie denn dann?«
»Sie kann das Restaurant putzen«, mischte sich Navins Onkel ein, der gerade durch eine Tür auf der anderen Seite des Raumes trat. »Navin hat uns einen großen Gefallen getan.«
Die Frau, die ihren Mann mit gerunzelter Stirn betrachtete, schüttelte entschieden den Kopf. »Sie wird uns kein Glück bringen. Der Priester sagt, dass ein schlechtes Vorzeichen in den Sternen steht.«
»Hör auf zu jammern, du närrisches Weib«, meine Navins Onkel, »und sieh lieber zu, dass du an die Arbeit kommst.« Er wandte sich an Navin und übergab ihm einen Umschlag. »Hier, fünftausend Euro.«
»Fünftausend!«, rief die Frau entsetzt. »Was für eine Verschwendung!«
Navins Onkel bedachte seine Frau mit einem wütenden Blick, woraufhin sie sich schimpfend abwandte.
Sita starrte auf den Umschlag. Ein Gefühl von Verzweiflung machte sich in ihr breit. Gerade war ein weiteres Geschäft abgewickelt worden.
Die Frau reichte Sita einen Wischmopp. »Benutz das Spülbecken«, zischte sie. »Fang mit der Küche an, und putz dann das Restaurant. Du musst dir deinen Lebensunterhalt schon verdienen.«
Sita hatte noch nie einen Mopp geschwungen. Im Haushalt der Ghais war immer Jaya fürs Putzen zuständig gewesen, und in St. Mary’s hatten sich Sitas häusliche Pflichten auf Gartenarbeit und Wäschewaschen beschränkt. Sie nahm den Mopp und ließ umständlich ein wenig Wasser darüberlaufen.
»Du dummes Ding!«, fauchte die Frau. »Füll das Becken, tauch den Mopp ein, wring ihn aus und wisch dann damit. Wo um alles in der Welt hat Navin bloß ein so beschränktes Mädchen wie dich aufgetrieben?«
Obwohl die Beleidigungen nur so auf sie einprasselten, weinte Sita nicht, sondern befolgte die Anweisungen der Frau und stählte sich gegen den Schmerz. Sie wusste instinktiv, dass es nur noch mehr Beschimpfungen hageln würde, wenn sie jetzt Schwäche zeigte.
Sie verbrachte den Nachmittag damit, Böden zu wischen und dicke, fettige Schmutzschichten von etlichen Küchenarbeitsflächen zu scheuern. Die Frau war eine grausame Zuchtmeisterin, das Mädchen konnte ihr nichts recht machen. Sita polierte den Herd auf Hochglanz, bis ihre Finger ganz taub waren. An den hervorstehenden Kanten brach sie sich die Nägel ab, und die Lappen, die sie immer wieder in kochend heißes Wasser tauchen musste, verbrühten ihr die Hände. Als abends um sechs schließlich das Restaurant aufmachte, war sie todmüde und völlig ausgehungert. Die Frau verbannte Sita in die Wohnung, wo sie ihr Schaufel und Besen in die Hand drückte.
»Ich möchte auf dem Boden kein Stäubchen mehr finden, sonst bekommst du nichts zu essen«, verkündete sie.
Die Frau stand währenddessen im Restaurant am Herd, unterstützt von einem indischen Küchenmädchen. Sie servierten einer Handvoll ihrer Nachbarn Tandoori-Gerichte. Für einen Freitagabend war wenig los, und dass nur ein paar Tische besetzt waren, machte die Frau noch wütender. Als Navins Onkel das Restaurant schließlich schloss, holte sie Sita aus der Wohnung und drückte ihr erneut den Mopp in die Hand.
»Ich möchte, dass der Boden glänzt.« Sie deutete auf die Theke, wo ein Teller mit Reis und Chutney bereitstand. »Wenn du fertig bist, darfst du
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