Du bist nie allein
Swansboro so weit wie möglich hinter sich lassen. Er bog auf den Highway Richtung Jacksonville ein. Dort würde er den Wagen gut versteckt abstellen und sich dann auf die Suche nach Julie begeben.
Jessica, so erinnerte er sich, hatte auch einmal zu fliehen versucht und gedacht, er würde sie nie finden. Sie war dafür mit dem Bus quer durchs halbe Land gefahren. Aber er hatte sie aufgespürt, und als er die Tür des schäbigen Motelzimmers öffnete, in dem sie hauste, musste er feststellen, dass sie nicht einmal überrascht war, ihn zu sehen. Sie hatte ihn wohl schon erwartet, und dieses Warten hatte sie schließlich zermürbt. Nicht einmal zum Weinen hatte sie noch Kraft gehabt. Als er ihr das Medaillon reichte, legte sie es sich um den Hals, als wüsste sie, dass ihr keine Wahl blieb.
Er half ihr vom Bett hoch und registrierte dabei ihre Kraftlosigkeit, dann legte er die Arme um sie. Er vergrub das Gesicht in ihrem Haar und sog ihren Duft ein.
Du hast doch nicht geglaubt, ich würde dich einfach so gehen lassen, oder?,
raunte er.
Bitte,
flüsterte sie.
Hab ich Recht?
Jessicas Stimme klang heiser.
Nein, du konntest mich nicht gehen lassen.
Es war falsch von dir, wegzulaufen, nicht wahr?
Jessica brach in Tränen aus, als würde ihr erst jetzt bewusst, was ihr bevorstand.
Oh… bitte…tu mir nicht weh… bitte, nicht schon wieder…
Aber du hast versucht, vor mir zu fliehen,
sagte er.
Du hast mir wehgetan, Jessica.
Oh… Gott… bitte… nein…
Pete Gandy stand blinzelnd in der Tür zur Dunkelkammer und versuchte sich einen Überblick zu verschaffen.
Hunderte Fotografien von Julie waren an die Wände geheftet. Julie, wie sie aus dem Salon kam und in ihr Auto stieg, Julie beim Waldspaziergang mit Singer, Julie beim Abendessen, Julie im Supermarkt, Julie auf ihrer Veranda, Julie morgens beim Zeitunglesen, Julie am Briefkasten. Julie am Strand. Julie auf der Straße. Julie in ihrem Schlafzimmer.
Jennifers Knie wurden weich. So etwas hatte sie im Traum nicht erwartet. Pete stand immer noch wie angewurzelt da.
»Unglaublich, dieser Typ«, flüsterte er. Jennifer drängte sich an ihm vorbei. Sie wollte unbedingt einen Blick in die anderen Räume werfen. War Andrea auch hier gewesen? In einem Zimmer fand Jennifer Richards Fitnessgeräte. Er hatte dort einen Spiegel aufgehängt, der von weiteren Bildern eingerahmt wurde. Jennifer ging weiter bis zur letzten Tür, hinter der vermutlich Richards Schlafzimmer lag.
In dem Raum befand sich eine Kommode, die so aussah, als stamme sie noch von den früheren Bewohnern des Hauses. Im Kleiderschrank hingen Richards Anzüge, säuberlich aufgehängt. An der Wand lehnte ein Wäschekorb, und neben dem Kopfende des Betts stand ein Telefon auf dem Boden.
Jennifers Aufmerksamkeit wurde jedoch von einem Foto auf dem Nachtschränkchen gefesselt.
Zuerst dachte sie, es wäre von Julie. Die gleichen Haare, die gleichen blaugrünen Augen. Aber es war nicht Julie, sondern jemand, der ihr stark ähnelte. Die Frau auf dem Foto hielt sich eine Rose an die Wange. Sie war einige Jahre jünger als Julie, und ihr Lächeln wirkte fast kindlich.
Als Jennifer das Foto von nahem betrachtete, fiel ihr das Medaillon am Hals der Frau auf. Es schien dasselbe Medaillon zu sein, das Julie ihr in der Küche gezeigt hatte.
Jennifer machte unwillkürlich noch einen Schritt nach vorn. Dabei stieß sie mit dem Fuß an einen Gegenstand. Sie schaute zu Boden und sah die Ecke eines Aktenkoffers unter dem Bett hervorragen.
Jennifer zog ihn hoch und legte ihn aufs Bett.
In dem Koffer befanden sich Dutzende Bilder von der Frau in dem Rahmen.
Pete kam hinter ihr herein. »Was hast du da?«, fragte er.
Jennifer sah ihn fassungslos an.
»Noch mehr Fotos«, sagte sie.
»Von Julie?«
»Nein«, erwiderte Jennifer. »Ich bin mir nicht sicher, aber das könnte Richards Frau Jessica sein.«
Kapitel 35
I nnerhalb von nur vierzig Minuten wimmelte es in Richard Franklins Haus von Polizisten aus Swansboro und Sheriffs aus Onslow County. Das Team von der Spurensicherung aus Jacksonville sammelte Fingerabdrücke und suchte nach Belegen dafür, dass sich Andrea dort aufgehalten hatte.
Jennifer und Pete standen mit ihrem Vorgesetzten draußen. Captain Russell Morrison war ein bärbeißiger, bulliger Mann mit schütterem grauem Haar und eng zusammenstehenden Augen. Sie erstatteten ihm ausführlich Bericht. Zuletzt erzählte Jennifer, was sie bei ihren Recherchen herausgefunden hatte.
Als sie geendet hatte,
Weitere Kostenlose Bücher