Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
Freunde der Eltern werfen ein, dass der Kleine doch erst anderthalb Jahre alt sei, der Vater jedoch beharrt auf seiner Meinung.
In beiden Situationen übernehmen die Erwachsenen keine Verantwortung für ihr Handeln, im Gegenteil: Sie suggerieren noch, dass das Kind selbst daran schuld sei, dass es geschlagen wird. Für den Vater des kleinen Jungen gehört Gewalt als allgemein akzeptiertes Erziehungsmittel zum Umgang mit Kindern selbstverständlich dazu; die Mutter des kleinen Mädchens setzt ebenfalls Gewalt ein, wird jedoch von schlechtem Gewissen geplagt und rechtfertigt ihr Tun mit dem Satz: »Wer nicht hören will, muss fühlen!« Dabei erfahren die Kinder mit jedem Schlag eine ganz bestimmte Botschaft von ihren Eltern, nämlich die, dass sie »unpassend« sind, dass sie, so wie sie sind, »nicht richtig«, nicht gewollt und wertlos sind. Du bist nicht o. k., so wie du bist – es ist eine persönliche Demütigung, die zu einer Beschädigung des Selbst dieser Kinder führt und sie in ihrer seelischen Entwicklung stark beeinträchtigt. Dadurch kann es langfristig zu schweren Entwicklungsstörungen kommen. Aggression, Wut und weitere Gewalt werden später dauerhaft Bestandteil in eigenen Beziehungen sein.
Beide Kinder drücken ihren Schmerz mit lautem Weinen aus. Dies hat zwei Gründe. Zunächst sind sie erschrocken über den unerwarteten Schmerz, den ihnen eine nahe, sonst so liebevolle Bezugsperson zugefügt hat. Dieser Person vertrauen sie ansonsten bedingungslos. Umso größer ist der jetzt empfundene Schmerz. Die Tränen drücken jedoch auch Schuldgefühle und die Empfindung von Scham angesichts der erfahrenen Entwürdigung aus. Dies spüren Kinder in jedem Alter. Später kann dieses Gefühl umschlagen in Verachtung der einst vertrauten und geliebten Bezugsperson. Schwierig wird es auch, wenn Kinder aufgrund der erlebten Reaktion der Umwelt ihre Gefühle irgendwann für sich behalten und sie nicht mehr zum Ausdruck bringen, denn dann ist das Vertrauen nachhaltig gestört.
Oft reagieren Eltern nicht nur auf das »Fehlverhalten« der Kinder mit Vorwürfen und Drohungen, sondern schimpfen und kritisieren sie auch noch wegen der folgenden Tränen. Dies stellt dann eine weitere Kränkung des Kindes dar. Es empfängt folgende Botschaft: Nicht nur mein Verhalten war verkehrt und hat die Mutter/den Vater gekränkt, auch mein Gefühl, die aufkommende Trauer, ist falsch und wird negativ bewertet. Diese stark emotionalen Erfahrungen werden gespeichert, miteinander gekoppelt und führen so im Gehirn zu bestimmten Vernetzungen, die die Betroffenen im Erwachsenenalter dann die erlebte Gewalt weitergeben lassen werden. Diese Mechanismen sind oft subtil und müssen sich nicht immer im sichtbaren Ausagieren von Gewalt manifestieren.
Manchmal verdrängen Betroffene die erlittenen Demütigungen und Kränkungen sogar und glauben sich an eine gute Kindheit zu erinnern. Dennoch bringen genau diese verdrängten Erfahrungen die Menschen dann später dazu, ebenjene Gewalt, die sie selbst erfahren haben, als Erziehungsmittel einzusetzen. Es handelt sich hierbei jedoch nicht um einen starren Automatismus, sondern um ein erkennbares Muster. Wir sind unseren Erfahrungen nicht hilflos ausgeliefert. Kommt ein innerer Prozess der Selbsterkenntnis in Gang, haben wir die Chance, diese erlebten Muster zu unterbrechen.
Aber warum schädigen die gern als harmlos klassifizierten »Klapse« Kinder nachhaltig und sind eben nicht so harmlos, wie oft behauptet wird? Alice Miller hat schon vor Jahrzehnten aus psychoanalytischer Sicht eindrucksvoll nachgewiesen, dass diese »Klapse« die kindliche Entwicklung aus verschiedenen Gründen und auf verschiedenen Ebenen verletzen und beschädigen:
Sie bringen dem Kind Gewalt bei.
Die Eltern fungieren als Vorbild!
Sie zerstören beim Säugling und Kleinkind die unersetzliche Sicherheit, geliebt zu werden.
Das Urvertrauen ist gestört – wie man auch beim Erwachsenen später erleben kann.
Sie erzeugen Ängste beim Kind: Die Erwartung der nächsten Strafe ist immerzu präsent.
Die Beziehung ist also nicht von Liebe und Vertrauen, sondern von Angst geprägt.
Sie zerstören das Mitgefühl und die Sensibilität für andere und für sich selbst.
Desensibilisierung ist die Folge. Die Fähigkeit, Empathie zu entwickeln, das heißt, sich einzufühlen, ist nicht gegeben oder wird zerstört. Ein inneres Wachstum ist nicht möglich, und die Entwicklung des Kindes wird beeinträchtigt.
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