Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
heißen, dass belastende Umstände zwangsläufig zu einem auffälligen Verhalten führen müssen; auffälliges oder unerwartetes Verhalten von Kindern hat jedoch immer Gründe. Es ist die Aufgabe von uns Erwachsenen, diese Faktoren zu berücksichtigen, sie so weit wie möglich zu ergründen und Zusammenhänge zu erkennen, sodass wir das Verhalten der Kinder aus einer Art Vogelperspektive betrachten und somit Schlüssel zu neuen Wegen finden können.
In der Familie mit ihren emotionalen Verbindungen mag dieser Perspektivwechsel ein wenig einfacher sein. In einer Institution wie der Schule kann es manchmal längere Zeit dauern, bis wir ergründen, warum Kinder sich so verhalten, wie sie es tun. Aber auch diese Zeit müssen wir uns nehmen.
Zehn Thesen zur Erziehung
Erziehung ist ein Anachronismus.
Erziehung beruht auf Machtstrukturen.
Erziehung ist Gewalt.
Erziehung setzt auf Gehorsam.
Erziehung ist unpersönlich und dient nur den Erwachsenen.
Erziehung nimmt Eltern Verantwortung.
Erziehung beschneidet Potenziale.
Erziehung nivelliert.
Erziehung macht schwach.
Erziehung hat eine Lobby, Kinder haben keine.
1. Erziehung ist ein Anachronismus
Es gibt zwei Gründe dafür, Erziehung zu hinterfragen: Ihr Konzept ist einerseits historisch, aus der damaligen Stellung des Kindes in der Gesellschaft, entstanden – und beruht andererseits auf einer falschen Grundannahme.
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurden Kinder schon in sehr jungen Jahren als Arbeitskräfte eingesetzt. Lebensabschnitte wie die heutige Kindheits- oder auch Jugendphase existierten in der Vergangenheit nicht. Kinder zu haben war eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Sie sicherten wenn nicht den Wohlstand, so doch die eigene Existenz, gerade im Alter. Ziel war es deshalb, Kinder so schnell wie möglich in die Erwachsenenwelt einzuführen und sie mit den Verhaltensnormen der Erwachsenen vertraut zu machen.
Die Bedeutung von Kindern für Familien hat sich stark verändert. Kinder haben heutzutage keinen materiellen, sondern einen immateriellen Wert für Familien. Kinder zu haben ist planbar und somit eine rational überlegte, zugleich von Emotionen getragene persönliche Entscheidung innerhalb individueller Lebensentwürfe geworden. Kindheit und Jugend haben im Zuge dessen einen Platz als eigenständige Lebensphasen bekommen. Heute wissen wir um die verschiedenen Stufen der Entwicklung von Kindern.
Über Jahrhunderte hinweg existierte die irrige Vorstellung, dass der Mensch unfertig zur Welt komme und erst durch Erziehung vollständig zum Menschen werde. Das Missverständnis, das Erziehung rechtfertigt, besteht in der falschen Grundannahme des Unvollständigen. Schlecht erzogen sei schlecht vervollständigt. Schlecht für Kinder ist es aber, ihre bereits vorhandene soziale und emotionale Kompetenz durch Erziehung zu beschädigen. Wer also Kinder weiterhin erzieht, versteht die Natur des Menschen nicht.
Wir wissen aus der Entwicklungspsychologie um die innerpsychischen Vorgänge wie zum Beispiel die Informationsverarbeitung von Stimmungen auf emotionaler Ebene schon bei Babys und die seelischen Bedürfnisse beim (Auf-)Wachsen und haben Erkenntnisse darüber gewonnen, welche maßgebliche Bedeutung Bindung und Beziehung gerade in der frühen Phase des Lebens haben. Insbesondere die Bücher des Psychoanalytikers Daniel Stern geben hierüber Auskunft.
Und wir wissen heute: Kinder kommen mit vielfältigen sozialen, emotionalen und kognitiven Potenzialen auf die Welt. Sie bringen bei Geburt eine Fülle an Entfaltungsmöglichkeiten mit. Durch die »Behandlung« der Kinder mit herkömmlicher Erziehung nehmen diese Potenziale Schaden. Der Mensch erlebt so zu Beginn seines Lebens eine Beschneidung seiner eigentlichen Möglichkeiten.
Auch die Art, wie wir über Kinder sprechen, ist größtenteils antiquiert. Die Sprache, die wir verwenden, wenn wir über den Umgang mit Kindern reden und aktiv »erziehen«, stammt aus einer Zeit, in der das Bild einer konfliktfreien Familie für erstrebenswert gehalten wurde – heute wissen wir jedoch, dass Konflikte notwendig sind; folglich ist dieses Familienbild überholt.
Da sich die Gesellschaft grundlegend gewandelt hat (Kinder sind keine materielle Notwendigkeit mehr) und wir die falsche Grundannahme vom Kind als »unfertigen« Wesen wissenschaftlich widerlegt haben, gibt es keinen triftigen Grund mehr, Kinder weiterhin zu erziehen. Der kulturell tradierte Erziehungsbegriff ist deshalb ein Anachronismus.
2. Erziehung
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