Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
der Kinder ernst nehmen.
Eine Mutter sitzt mit ihrer einjährigen Tochter am Tisch. Die junge Mutter füttert ihre Tochter liebevoll. Nach dem zweiten Löffel weigert sich die Kleine, den Mund zu öffnen, dreht den Kopf weg und wird unruhig. Sie versucht aus dem kleinen Kinderstuhl aufzustehen und beginnt zu jammern. Die Mutter kann sich das Verhalten ihrer Tochter nicht erklären. Sie drückt sie sanft in den Sitz zurück und sagt ruhig, aber bestimmt: »Nein, erst wird aufgegessen, danach kannst du aufstehen und spielen.« Das kleine Mädchen lässt sich kurzfristig umstimmen und sich einen weiteren Löffel geben. Dann dreht sie wieder den Kopf zur Seite, presst die Lippen zusammen und versucht erneut aufzustehen. Dabei beginnt sie laut zu weinen und zu schreien. Die Mutter wird ärgerlich. »Du sollst jetzt erst aufessen! Wie kann ich dich nur dazu kriegen, dass du sitzen bleibst?«
Es geht nicht darum, das Verhalten der Mutter abzuwerten oder zu kritisieren. Die Frage ist vielmehr, mit welchem Ziel tun wir Erwachsenen etwas, und berücksichtigen wir die Bedürfnisse der Kinder dabei? Die Mutter möchte, dass das Kind möglichst früh lernt, während des Essens am Tisch sitzen zu bleiben. Sie sieht und beurteilt nur das (scheinbare Verweigerungs-)Verhalten ihrer Tochter. Dass es dafür einen anderen Grund als die bloße Verweigerung des Essens geben könnte, zieht sie gar nicht in Erwägung.
Nach langem Hin und Her, einem anstrengenden Machtkampf, Ärger auf beiden Seiten und vielen Tränen bei dem kleinen Mädchen nimmt die Mutter ihr Kind schließlich völlig entnervt und wütend aus dem Hochstuhl. Die Kleine beruhigt sich sofort, und die Mutter bemerkt, dass die Windel voll ist. Deshalb war ihr das Sitzen zur Qual geworden.
Natürlich kann es – gerade, wenn sich Kinder noch nicht differenziert und umfassend artikulieren können – zu Missverständnissen kommen. Dass diese (scheinbare) Verweigerung des Mädchens jedoch nicht gegen die Mutter gerichtet, sondern ein wichtiges Signal und durchaus berechtigt ist, kommt bei einer solchen Haltung nicht in Betracht. Wenn wir jedoch die Reaktionen und Rückmeldungen von Kindern in jeder Situation ernst nehmen würden, entstünde eine Interaktion, eine Kommunikation, eine konstruktive Beziehung.
Solche Situationen im Alltag mit Kindern gibt es unzählige. Ob es nun wie hier im Beispiel die Einjährige ist, die noch nicht sprechen kann, oder aber der Fünfjährige, der sich wütend auf den Boden wirft, weil ihm Süßigkeiten verweigert werden, oder ob es Oskar ist, der seine Hausaufgaben nicht macht. Immer wieder unterliegen wir dem gleichen Irrtum und meinen, Kinder mit Erziehungsmaßnahmen beeinflussen zu müssen. Dabei ignorieren wir, dass das Verhalten von Kindern immer einen Sinn hat, auch wenn wir diesen nicht oder nicht gleich verstehen.
Würden wir im Umgang mit Kindern nicht das Verhalten/Symptom beurteilen, sondern das Kind ernst nehmen und uns die Fragen stellen: »Warum verhält sich denn das Kind so? Welche Persönlichkeit, welche Wünsche und Bedürfnisse verbergen sich hinter dem Verhalten?«, würde etwas ganz anderes entstehen.
Die bisherige Fragestellung, »Wie bekommen wir Oskar dazu, pünktlich in der Schule zu erscheinen, seine Hausaufgaben zu machen und endlich nicht mehr zu stören?« wäre erst einmal gar nicht relevant. Zunächst wäre von Bedeutung: »Warum schafft Oskar es nicht, pünktlich zum Unterricht da zu sein? Und warum kann er seine Hausaufgaben nicht erledigen?«
Warum ist etwas so, wie es ist? Warum kann das kleine Mädchen nicht am Tisch sitzen bleiben und warum ärgert sich der Fünfjährige so über alle Maßen darüber, dass er keine Süßigkeiten bekommt (wo ist unser Anteil als Eltern?).
Wir Erwachsenen könnten mit dieser veränderten Haltung zunächst den Istzustand wertfrei sehen und mit ernsthaftem Interesse nachfragen. Wenn wir zuerst nach dem Warum fragen, können wir dem Kind signalisieren: »Du bist o. k., so wie du bist! Ich sehe, es geht dir nicht gut, was können wir tun?« Es gäbe keine Schuldzuweisungen, keine Vorwürfe. Die Kinder würden sich entlastet und grundsätzlich angenommen fühlen.
Auch Oskars Verhalten könnten wir durch die Frage nach dem Warum als einen Hinweis verstehen lernen. Er scheint stark überfordert zu sein und nicht die nötige Unterstützung zu haben. Vielleicht sind seine Eltern seit Kurzem getrennt, vielleicht ist er zu sehr auf sich allein gestellt. Das soll keinesfalls
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