Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
diesen Konflikt mit seinen Eltern differenziert zu besprechen, so ist doch sein Feedback klar. Seine Reaktionen kann man auf folgende Weise interpretieren. Das Zuspätkommen zum Essen könnte heißen:
»Ich bin nicht so schnell wie ihr, Mama und Papa, wartet mal kurz.«
Die lange Zeit, die Tim dann für das Essen benötigt, könnte in folgende Botschaft übersetzt werden:
»Ich brauche einfach meine Zeit und ich kann nicht schneller essen, selbst wenn ich wollte.«
Und dass Tim sich weigert, beim Tischdecken zu helfen, könnte auf die Kränkung zurückzuführen sein, die Tim erlebt, wenn seine Bedürfnisse nach mehr Zeit und Unterstützung für seine Anliegen nicht bemerkt und ernst genommen werden.
Wenn Kinder aufhören, Teamworker zu sein, kann das zwei Gründe haben:
Der hohe Erwartungsdruck überfordert sie, wenn sie sich zu lange und zu sehr nach den Wünschen und Erwartungen der Eltern richten müssen.
Ihr Vertrauen in die Beziehung wird beschädigt oder kommt ihnen ganz abhanden, wenn sie verletzt oder gekränkt werden, ihre Persönlichkeit nicht geachtet und ihre Bedürfnisse missachtet werden.
Niemals kündigen Kinder von sich aus die Zusammenarbeit mit uns Erwachsenen auf. Und nie geschieht eine solche Verweigerung grundlos. Wenn sich Kinder dem Zusammenwirken verweigern, ist das immer auch ein Ausdruck dafür, dass im Beziehungsgeflecht zwischen Erwachsenen und Kindern etwas in Schieflage geraten ist.
Lisa und Peter glauben offenbar, dass sich ihr Kind nicht kooperativ verhalten hat. Dabei verwechseln die beiden jedoch Kooperation mit Anpassung. Kinder kooperieren nicht, indem sie sich an uns anpassen. Sie haben ein sehr feines Gespür, hinterfragen (unbewusst) unser Handeln und Tun und wollen es verstehen. Oft spüren Kinder, dass die an sie herangetragene Verhaltenserwartung – und ihre Reaktion darauf – mit einer bestimmten Stimmung und so mit dem Zustand der gesamten Familie zu tun hat. Es geht hier nicht um eine Bewertung der elterlichen Qualitäten von Lisa und Peter. Solche Situationen entstehen im Zusammenleben häufig. Sie gehören zur Entwicklung von Familie dazu. Wichtig ist, dass wir Erwachsenen die Rückmeldungen und Reaktionen der Kinder ernst nehmen und so auch Hinweise auf eine mögliche Schieflage erkennen und dann mit ihr umgehen können.
Peter: »Wir arbeiten beide viel und kommen auch extra in unserer Mittagspause nach Hause geeilt.«
Lisa: »Ich hole Tim dann aus dem Kindergarten ab, und wir gehen schnell nach Hause. Ich koche am Abend vor, damit wir das Essen dann nur noch aufwärmen müssen. Wir würden eigentlich alles gut schaffen, wenn nur Tim nicht so trödeln würde.«
Die Lebenssituation von Lisa und Peter ist nicht außergewöhnlich. In vielen Familien gehen beide Elternteile einer Arbeit nach, und Beruf und Familie unter einen Hut zu bekommen wird zum Drahtseilakt. Dass das gemeinsame Familienmittagessen da akribisch geplant, in den Alltag reinorganisiert und so dann auch schon mal zum »Termin« anstatt zur Familienzeit wird, ist verständlich. Das Bedürfnis der Eltern, als »gute« Eltern ein gemeinsames Mittagessen mit ihrem Sohn einzunehmen und das Essen akkurat und zügig in den Tagesablauf zu integrieren, ist durchaus nachvollziehbar.
In der Hektik des Alltags achten die Eltern eher darauf, wie ein Essen abläuft, also auf Äußerlichkeiten, als darauf, was ihre Begegnung am Mittag tatsächlich zu einem gemeinsamen Erlebnis macht. Lisa und Peter haben vom Ablauf des Tages feste Vorstellungen. Dabei sind die tatsächlichen Bedürfnisse in den Hintergrund geraten. Denn Tim hat nicht das Bedürfnis, die Mittagszeit in Hektik, zeitlich durchgetaktet und mit perfekten Tischmanieren zu verbringen. Er will zwar mit seinen Eltern zusammen sein. Er will aber vor allem mit ihnen reden, er braucht Zuwendung und Eltern, die ihm zuhören und seine Bedürfnisse wahrnehmen. Damit, dass er in einem durchorganisierten Alltag »funktionieren« soll, ist er völlig überfordert. Und so kooperiert Tim zwar, so gut er kann, »bremst« jedoch auch seine viel beschäftigten Eltern gleichzeitig aus und gibt ein qualifiziertes Feedback:
»Liebe Eltern, mir geht das alles zu schnell. Alles ist durchorganisiert und muss wie am Schnürchen klappen – auch ich soll funktionieren. Das kann ich aber nicht, ich habe ein anderes Lebenstempo und brauche mehr Zeit. Warum merkt das denn keiner?!«
Mit diesem stillen Appell wendet sich Tim an seine Eltern. Andererseits jedoch macht
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