Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
er alles »brav« mit, passt sich an, so gut es geht. Er bemüht sich redlich und genügt dennoch den (zu hohen) Erwartungen der Eltern nicht. Im Glauben, dass es gut für Tim ist, wenn er sein Mittagessen mit beiden Eltern einnehmen kann, haben Peter und Lisa etwas in ihr Leben hineinorganisiert, was Tim in Wahrheit nicht guttut – seinen Eltern übrigens auch nicht. Das spürt Tim, und er gibt deutliche Hinweise darauf. Trotzdem wählt er erkennbar die Kooperation mit seinen Eltern und nimmt dafür Kränkungen in Kauf.
Nachdem sie sich diese Zusammenhänge klargemacht hatten, haben Lisa und Peter mit ihrem Sohn gesprochen und ihm gesagt, dass sie gern etwas verändern wollen. Dass sie verstanden haben, dass sie alle mehr Zeit für das Essen brauchen und dass der Ablauf des Mittagessens auch für sie als Eltern anstrengend und nur mit Mühe zu bewältigen ist. So haben sie gemeinsam ihren Alltag neu strukturiert und probieren es anders: Tim bleibt über Mittag nun im Kindergarten, und das gemeinsame Familienessen findet am Abend mit mehr Zeit und Ruhe statt.
»Manchmal ist es nach wie vor stressig, aber wir merken das jetzt besser und können dann den Druck rausnehmen«, erzählt Lisa. »Und Tim«, so berichtet Peter vier Wochen später, »schneidet am Abend immer das Gemüse selbst – sogar mit dem scharfen Messer!«
Wenn wir unseren Kindern ständig unseren Willen und unsere Regeln aufdrängen, sie kontrollieren, belehren und bevormunden und ihnen mit Strafe drohen, falls sie unseren Anweisungen nicht Folge leisten, verletzen wir beständig das Recht der Kinder auf die Befriedigung ihrer natürlichen Bedürfnisse.
Dass wir Erwachsenen das so gut verdrängen und ausblenden können, liegt allein daran, dass Kinder auf unsere Angriffe nach außen hin kooperativ reagieren, während ihre seelisch-emotionale Entwicklung stark und meist nachhaltig gestört wird. Die Auswirkungen sind oft zunächst für die Umwelt nicht sichtbar. Das heißt jedoch nicht, dass sie nicht vorhanden wären. Wenn Kinder weinen, sehen wir das als Bestätigung des Erfolgs unserer erzieherischen Maßregelung. Nur dort, wo Kinder auf die Verletzungen, die wir ihnen zugefügt haben, mit Aggression nach außen reagieren, werden wir aufmerksam. Und was tun wir? Wir unterbinden möglichst rasch die Symptome dieses auffälligen, von uns nicht erwünschten Verhaltens und reagieren mit vermeintlich wichtiger und oft empfohlener elterlicher Konsequenz gegen den scheinbaren Widerstand des Kindes, der für uns nur das eine ist: ein Ausdruck von Rebellion gegen unsere Autorität in unserer Rolle als Eltern.
Gehorsamkeit in der Erziehung:
Mein Kind hört nicht auf mich!
Der häufigste Satz, den Eltern mir in Beratungen sagen, ist: Mein Kind hört nicht auf mich! Eltern kommen mit dem Anliegen in die Beratung, besser mit ihrem Kind zurechtkommen zu wollen, weil sie gemerkt haben, dass in der Kommunikation etwas schief läuft. Lesen wir zwischen den Zeilen des Satzes, so wird klar, was die eigentliche Erwartung von Eltern ist: Mein Kind soll mir gehorchen. Wie kann ich das erreichen?
An dieser Stelle müssen sich Eltern darüber klar werden, wie sie das Verhältnis zu ihrem Kind gestalten und was für ein Kind sie haben wollen. Wollen sie ein folgsames, gehorsames Kind haben? Eines, das angepasst ist und nur macht, was sie sagen? Oder sind sie bereit, etwas Neues auszuprobieren? Und können sie sich vorstellen, ihr Kind selbstbewusst und mit maximaler psychischer und physischer Gesundheit aufwachsen zu lassen – auch wenn es ihnen widersprechen darf?
Die Trotz- oder »Ich will selber machen« -Phase
Der Begriff Trotzphase stammt aus einer Zeit, in der Kindern eine grundsätzliche Widerständigkeit unterstellt wurde, die durch Erziehung in unbedingten Gehorsam verwandelt werden sollte. Tatsächlich aber ist das, was wir heute immer noch oft Trotzphase nennen, eine der wichtigsten Entwicklungsphasen eines Kindes. In der Entwicklungspsychologie spricht man deshalb auch nicht von der Trotz-, sondern von der Autonomiephase. Im zweiten Lebensjahr nimmt das Bestreben nach Selbstständigkeit bei Kindern zu. Sie wollen möglichst viel ohne Hilfe machen und entscheiden: Sie wollen sich selbst anziehen, entscheiden, was sie anziehen, und entscheiden, dass sie genau jetzt ein Eis essen wollen. Sie entwickeln also in dieser Phase einen eigenen Willen und nehmen sich als diejenigen wahr, die eigenständig Handlungsziele definieren können.
Was sie in diesem Alter
Weitere Kostenlose Bücher