Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
was für diese in vielen Fällen vor allem entlastend ist, wie wir später sehen werden. Es heißt aber auch, dass wir dem Kind eine Entscheidung abnehmen und somit nach unserem Ermessen »bestimmen«, sodass das Kind in seiner Autonomie und Selbstbestimmung beschnitten wird. Hier gilt es nun, sich darüber klar zu werden, welche Fähigkeiten die Kinder erlangen sollen, die wir heranwachsen lassen. Wollen wir Menschen, die eine innere persönliche Autorität entwickeln können, die in ihrem Leben später unabhängig und verantwortungsvoll, eigene existenzielle und auch soziale Entscheidungen treffen können, oder Menschen, die auf fremde Autoritäten vertrauen? Diese Frage hat etwas damit zu tun, wie wir mit Verantwortung für Entscheidungen, die eigentlich im Bereich unserer Kinder liegen, als Erwachsene umgehen: An welcher Stelle übernehme ich als Erwachsener Verantwortung, und wo kann mein Kind auch selbst und eigenverantwortlich für sich entscheiden? Oder anders gefragt: Wo muss ich Verantwortung übernehmen, und wo ist es im Sinne des gesunden Wachstums des Kindes wesentlich, dass ich Verantwortung teilweise abgebe(n kann), Bereiche teile oder dem Kind gänzlich überlasse?
Im herkömmlichen Verhältnis zwischen Eltern und Kindern gab es diese Fragestellung in dieser Differenzierung gar nicht. Die Rollen waren klar verteilt, und die Erwachsenen haben an jeder Stelle für das Kind entschieden, welches sich dem Willen der Eltern zu beugen hatte, gehorsam sein und sich unterordnen musste. Selbstbestimmung und Autonomie spielten keine Rolle. Heute wissen wir, wie wichtig diese Aspekte für eine gesunde Entwicklung von Kindern sind.
Wenn ich das Thema Verantwortung mit Eltern bespreche, entsteht oft ebendiese Frage: Wo kann ich und wo muss ich Verantwortung übernehmen?
Der zweieinhalbjährige Jannik ist mit seinem Vater unterwegs. Während sein Vater den Kinderwagen schiebt, in dem die jüngere Schwester liegt, hält sich Jannik an der Seite des Wagens fest. Als sie an eine stark befahrene Straße kommen, nimmt der Vater Janniks Hand. Jannik jedoch entdeckt eine Baustelle, reißt sich los und rennt weg. Sein Vater reagiert blitzschnell und folgt ihm in großen Schritten: »An dieser Straße bleibst du bitte an meiner Hand«, sagt er und nimmt, ohne auf die Proteste von Jannik einzugehen, dessen kleine Hand in seine eigene.
»Nein, Papa«, jammert Jannik. »Ich will nicht, bin schon groß«, versucht er zu erklären, allerdings ohne Erfolg.
Doch sein Vater hockt sich – weiterhin Janniks Hand in seiner – zu ihm, schaut ebenfalls zur Baustelle und zeigt auf den großen Bagger, der gerade mit viel Getöse die Schaufel in einen Container entleert. »Schau mal da, der Riesenbagger, Jannik!« Der Junge ist begeistert. Wenig später laufen sie – Hand in Hand – weiter.
»Du kannst jetzt wieder vorlaufen, wenn du magst«, sagt der Vater, als die Straße hinter ihnen liegt. Jannik löst sich aus der Hand des Vaters und hält sich wieder an der Seite des Kinderwagens fest.
Niemand würde hier Janniks Vater einen Vorwurf machen und sagen, er habe machtvoll seinen Sohn unterworfen. Sicher sind wir uns hier einig: Er musste hier handeln und hat Verantwortung übernommen. Zwar hat er sich durch seine körperliche Überlegenheit durchgesetzt und auch elterliche Macht genutzt, er hat sie jedoch nicht missbraucht. Es ist keine Frage, dass Eltern für ihre kleinen Kinder entscheiden und sie so beschützen, wenn es für sie gefährlich wird. So gibt es unendlich viele (kleine, aber auch größere) Momente, wo Eltern Verantwortung im Sinne des Kindes übernehmen, wenn es für diese existenziell wird.
Lassen Sie mich die geschilderte Szene – Jannik soll an der Hand des Vaters bleiben – anders weitererzählen:
… »Nein, Papa«, jammert Jannik. »Ich will nicht, bin schon groß«, versucht er zu erklären und lässt traurig den Kopf hängen.
Sein Vater beugt sich zu ihm hinunter und zischt wütend: »Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du hier an der Hand sein musst, hör sofort mit dem Gejammer auf, sonst gehen wir direkt weiter.«
Jannik blickt erschrocken in das wütende Gesicht seines Vaters, der seine kleine Hand nun sehr fest hält. »Ja, Papa«, sagt er und beginnt zu weinen.
»Immer dieses Geheule. Ich hab’s dir gesagt. Wenn du’s nicht lassen kannst, dann gehen wir!«, sagt sein Vater streng und zerrt Jannik augenblicklich an der Hand weiter, vorbei an der Baustelle und vorbei an dem Bagger. Jannik
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