Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
sogenannten exekutiven Frontalhirnfunktionen. Dazu gehört, dass man in der Lage ist, Handlungen zu planen, die Folgen von Handlungen abzuschätzen, Impulse zu kontrollieren, Frust auszuhalten, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Das sind alles Erfahrungen, die man im Laufe seines Lebens macht. Diese Metakompetenzen, wie sie heißen, werden im Frontalhirn verankert. Wichtig ist zu wissen: Das geschieht nicht automatisch, es gibt keine genetische Disposition für Handlungsplanung oder Folgenabschätzung oder Impulskontrolle. Das muss erworben werden.
Katharina Saalfrank: Das heißt also aus neurobiologischer Sicht, dass diese Kinder keinen genetischen Defekt haben und nicht »krank« sind, sondern dass das Kind an dieser Stelle noch nicht ausreichend eigene Beziehungserfahrungen gemacht und so noch nicht die Fähigkeit erlangt hat, zum Beispiel aufkommende Impulse gut zu kontrollieren.
Gerald Hüther: Ganz richtig. Diese Erfahrung ist noch nicht ausreichend gemacht und deshalb im Gehirn noch nicht genügend verankert und im System verknüpft. Das Kind braucht also Beziehungserfahrungen, zum Beispiel wie schön es ist, wenn man sich selbst kontrolliert, wie schön es ist, wenn man eine Handlung plant, dass es sehr beglückend sein kann, wenn man sich in einen anderen Menschen hineinversetzt, und dass es ein ganz tolles Gefühl sein kann, wenn man einen Impuls, der in einem hochkommt, kontrolliert. Diese Fähigkeiten können Menschen besonders gut erwerben, wenn sie mit anderen gemeinsam wirken.
Katharina Saalfrank: Also machen etwa fünf Jungs, die gemeinsam ein Baumhaus bauen, in diesem Prozess eine Menge wichtiger Erfahrungen: einen Plan zu machen, Werkzeug zu besorgen, zu schauen, wer am besten klettern und wer am besten tragen kann, und so weiter.
Gerald Hüther: Ja, und dabei erwerben sie dann alle diese wunderbaren Metakompetenzen, diese exekutiven Frontalhirnfunktionen. Und weil sie diese Fähigkeiten als beglückend erleben, werden sie deshalb auch fest in ihrem Frontalhirn verankert; sonst würden sie das gemeinsame Werk – also das Baumhaus – auch nicht zu Ende kriegen.
Katharina Saalfrank: Wenn Kinder diese Fähigkeiten und Metakompetenzen (noch) nicht erworben haben, ist zu beobachten, dass es ihnen oft besonders schwerfällt, sich auf eine neue Umgebung, auf ein neues Umfeld einzustellen. Oft sprengen diese Kinder dann auch Gruppensituationen. Also, ein anderes Beispiel: Wenn fünf Kinder miteinander beschäftigt sind und einen Turm bauen, jeder legt einen Stein drauf, jeder trägt etwas dazu bei.
Gerald Hüther: … und dann kommt Julius. Aber er kennt das überhaupt nicht, dass man gemeinsam etwas Drittes macht oder sich gemeinsam um etwas Drittes kümmert. Und er hat diese Metakompetenzen noch nicht entwickelt. Aber: Er hat natürlich auch diese Sehnsucht nach Verbundenheit, kennt jedoch nur eine Erfahrung, wie man Verbundenheit erreicht: indem man sehr aktiv wird und zu einem der Kinder sagt: »Hallo, hallo, hier bin ich, Julius heiße ich.« Und damit behindert und unterbricht er das gemeinsame Turmbauen.
Und wenn dann eines der Kinder sagt »Hau ab, du störst«, dann weiß er nicht mehr weiter, er hat zu wenig Erfahrungen damit gemacht, seine Affekte zu kontrollieren, und dann macht er das mit dem zweiten Kind. Das sagt dann auch »Hau ab«, und bald sagt die ganze Gruppe »Hau ab, du störst, du kannst hier nicht mitmachen.«
Katharina Saalfrank: Und dann wird es kritisch. Julius hat jetzt kaum noch eine Möglichkeit zu reagieren und fühlt sich ausgeschlossen.
Gerald Hüther: Gerade einem Jungen, der viel Antrieb hat und womöglich auch schon häufiger die Erfahrung gemacht hat, dass man aktiv sein muss, passiert dann oft Folgendes: Er geht da rein und macht den Turm kaputt. Und das nennen wir dann ADS mit Hyperaktivität.
Katharina Saalfrank: Der Junge löst sein Problem mit den Möglichkeiten, die ihm zur Verfügung stehen, indem er das gemeinsame Projekt kaputt macht. In der Schule wäre das gemeinsame Projekt der Unterricht. Und das alles nur, weil er irgendwie versucht, dazuzugehören und Verbundenheit herzustellen. Aus dieser Sicht nun ist sein Verhalten sehr nachvollziehbar.
Gerald Hüther: Ja, völlig! Ganz logisch und richtig. Er hat eine für sich gute Lösung gefunden. Und wenn es eher ein zurückhaltendes Kind ist, dann stellt es sich in einer vergleichbaren Situation ans Fenster und träumt sich weg aus dieser »furchtbaren Welt«. Und das ist ADS ohne
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