Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
ist.
Katharina Saalfrank: Das heißt ja, dass die Umwelt tatsächlich der maßgebliche Faktor dafür ist, wenn Kinder diese ihnen angeborenen Potenziale und Fähigkeiten nicht weiterentwickeln können oder gar vollständig verlieren. Aus pädagogischer Sicht würde ich sagen: Kinder brauchen das unbedingte Gefühl: Du bist o. k., so wie du bist – und nicht den Druck der Umwelt: Du bist o. k., so wie ich will! Letzteres erzeugt Druck und hemmt die Entfaltung und Weiterentwicklung der kindlichen Potenziale. Was sagt der Hirnforscher?
Gerald Hüther: Ja, das passiert immer dann, wenn Erwachsene versuchen, aus dem Kind etwas zu machen, das sie selbst als Vorstellung im Kopf haben. Dann fühlt sich das Kind nicht gesehen, dann fühlt es sich in seinen Impulsen nicht wahrgenommen und in seiner Entdeckungsfreude und Gestaltungslust gehemmt und gesteuert. Man muss sich das so vorstellen, als ob ein Gärtner einen Obstbaum zu einer Art »Spalierobst« zurechtschneidet, so wie es ihm gefällt und wie er vermutet, dass es ihm später die größten Erträge bringt. Aber das wird natürlich nicht unbedingt ein gesunder Baum. Und es bleibt am Ende, wenn dieses »Spalierobst« von dem Gärtner so zugerichtet worden ist, wenn man es nicht unter dem Gesichtspunkt des Ertrages, sondern unter dem Gesichtspunkt der Gesundheit sieht, nicht viel übrig. So ein Kind hat dann viel verloren an Lebensfreude, an Glück und an der Fähigkeit, seine Bedürfnisse in dieser Welt zu stillen und mutig und zuversichtlich in diese Welt hineinzugehen.
Katharina Saalfrank: Als Pädagogin und Therapeutin arbeite ich vorwiegend auf der Beziehungsebene, mir geht es nicht in erster Linie um Verhaltensänderungen. Oft geht es im Beratungsprozess auch darum, eigene überdeckte Gefühle wieder neu zu spüren und zu benennen. Durch die herkömmliche Erziehung werden Menschen oft in frühen Jahren die Fähigkeiten »abtrainiert«, sich selbst wahrzunehmen und Gefühle zu erkennen und auch als Signale ernst zu nehmen. Das Gehirn gilt ja als das Organ, wo die Ratio verankert ist. Was sagt denn die Gehirnforschung zu Gefühlen?
Gerald Hüther: Ohne Gefühl geht gar nichts. Man kann nichts wahrnehmen, ohne etwas zu fühlen. Man kann auch nichts tun, ohne dabei irgendein Gefühl zu haben. Und man kann auch nichts denken und sagen, ohne dass man Gefühle dabei hat. Das heißt, neurobiologisch ist an all diese neuronalen Verarbeitungsprozesse, wenn sie denn einigermaßen bedeutsam sind, immer ein Gefühl gekoppelt. Im Grunde genommen sind sogar die Gefühle das, was die Dinge erst bedeutsam machen. Aber Kinder können in einem ganz schwierigen Lernprozess dazu gebracht werden, ihre Gefühle vom Denken abzutrennen.
Katharina Saalfrank: Wo genau sind die Gefühle denn verankert, und wie ist es möglich, dass im Gehirn solche Prozesse ablaufen?
Gerald Hüther: Gefühle entstehen dadurch, dass im Hirn noch ein zweites System zugeschaltet wird, das zum Beispiel bei einer bestimmten Wahrnehmung deutlich macht, dass es jetzt ernst wird. Erst mithilfe dieser Gefühle, dieser »emotionalen Aufladung«, ist man in der Lage, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden und aus der Vielzahl der Wahrnehmungen einzelne Aspekte herauszugreifen, sich diesen zuzuwenden und dann auch Entscheidungen zu treffen.
Katharina Saalfrank: Das klingt doch eigentlich gut, und Kinder brauchen deshalb Erwachsene, an denen sie sich orientieren können. Menschen, die authentisch sind, über ihre Gefühle sprechen und auch die Rückmeldungen von Kindern und deren Emotionen ernst nehmen. Oft ziehen sich Erwachsene jedoch auf eine Rolle zurück und zeigen ihre wahren Gefühle gar nicht. Was bedeutet das dann für die Entwicklung des Gehirns?
Gerald Hüther: Kinder lernen dadurch natürlich irgendwann auch, ihre Gefühle immer effektiver abzukoppeln. Und eigentlich lernen sie dann noch mehr: Gefühle vorzuspielen und in dem anderen, dem Gegenüber, bewusst Gefühle auszulösen, um bestimmte Ziele zu erreichen.
Katharina Saalfrank: Kinder brauchen die Gewissheit, dass sie einerseits aufs Tiefste verbunden sind und andererseits zugleich wachsen und autonom werden können. Also eine Beziehung, in der man verbunden und gleichzeitig auch frei ist. Wenn Kinder zu Hause eine solche Gewissheit nicht erleben – fehlt ihnen dann grundsätzlich diese Erfahrung als Anlage im Gehirn?
Gerald Hüther: Nein, sie fehlt auch solchen Kindern nicht. Denn die Erfahrung, dass man verbunden ist und dass man jeden
Weitere Kostenlose Bücher