Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
als Gehirndoping, wie sie selbst sagen: Die nehmen Ritalin, Psychostimulanzien, Amphetamine, Kokain in niedrigen Dosierungen oral ein und schaffen eine Situation in ihrem Hirn, wo sie zum Beispiel die ganze Nacht extrem leistungsfähig durcharbeiten können. Aber sie können das nur deshalb, weil sie keinen inneren Impuls mehr haben. Ihr Körper ruft, ich will schlafen gehen – nein, sie arbeiten durch! Ihre Frau steht dreimal an der Tür und sagt »Komm doch schlafen« – nein, ich arbeite! So können sie also scheinbar Hochleistungen vollbringen. Und das – glauben wir – sei ein Zeichen dafür, dass das Hirn gedopt ist. In Wirklichkeit werden aber eigentlich nur die inneren Impulse abgestellt.
Und genau in dieser Weise nehmen diese Kinder die Substanzen ein, das heißt, die erleben plötzlich einen Zustand, in dem es beispielsweise Julius nicht mehr wehtut und es ihm nichts mehr ausmacht, dass er nicht dazugehört. Der Impuls, diesen Schmerz zu entladen, indem er den Schulunterricht kaputt macht, der kommt gar nicht mehr hoch. Und der Impuls, sich wegzuträumen, weil das alles so ein Elend ist, was sie da erleben, der kommt bei Kindern, die Ritalin genommen haben, auch nicht mehr durch. Auch der Impuls zu essen, wenn man Hunger hat, wird dann nicht mehr so richtig umgesetzt. Deshalb essen diese Kinder schlecht. Und der Impuls, ins Bett zu gehen, wenn man müde ist, kommt auch nicht mehr so richtig durch. Deshalb schlafen diese Kinder auch nicht mehr so gut. Eltern verabreichen also Pillen, die die inneren Antriebssysteme der Kinder hemmen.
Katharina Saalfrank: Also eine absolute Symptombehandlung.
Gerald Hüther: Da kann man nun dafür oder dagegen sein. Das ist eine Entscheidung, die Eltern wohl verantwortlich selbst treffen müssen. Aber das Entscheidende ist: Man muss die Eltern aufklären, sonst können sie nichts entscheiden und auch die Verantwortung nicht übernehmen. Was sie wissen müssen, ist, dass ihrem Kind durch Ritalin das innere Impulssystem und damit auch das Verhaltenssteuerungssystem abgeschaltet werden.
Das Problem auf neurobiologischer Ebene ist dabei: Man braucht dieses System, damit man etwas lernen kann. Wenn man das dopaminerge System abgeschaltet hat, kann man auch nichts nachhaltig im Hirn verankern. Das heißt, man verhindert durch Ritalin, dass diese Kinder lernen, wie sie ihr Verhalten besser steuern können. Dadurch, dass man die Kinder beziehungsweise das kindliche Hirn in eine Situation bringt, in der ein Pharmakon, ein Medikament, die Impulskontrolle lenkt, hat das Kind gar keine Veranlassung mehr, es selbst zu lenken.
Katharina Saalfrank: Das heißt, das Kind hat rein hirnorganisch, physiologisch gesehen, gar keine Möglichkeiten mehr, überhaupt wichtige Erfahrungen zu machen?
Gerald Hüther: Man beraubt das Kind gewissermaßen der Möglichkeit, diese wesentlichen Erfahrungen zu machen, die ohnehin schon fehlen. Nämlich, wie schön es wäre, wenn man einen Impuls hemmen könnte, denn es gibt ja gar keinen Impuls mehr.
Das geben auch alle Psychiater zu, dass die medikamentöse Behandlung eine reine Symptomunterdrückung zur Verhaltensanpassung ist. Aber vordergründig im Verhalten in der Schule sieht es so aus, als ob das Kind besser ist. Und das stimmt ja auch – sie machen dann gute Zensuren, sie absolvieren dann häufig auch das Abitur, und manchmal haben sie auch das Glück, dass sie in der Pubertät selbst diese Medikamente absetzen, und dann kommen die Impulse wieder.
Katharina Saalfrank: Das heißt, sie sind dann in ihrem Selbst nicht mehr so verunsichert und auch autonomer, wie noch zu früheren Zeiten?
Gerald Hüther: Genau. Dann sind sie sicherer, auch eigenständiger und können diese exekutiven Frontalhirnfunktionen relativ schnell selbst lernen. Dann wollen sie das aber auch. Deshalb setzen sie dann auch diese Pillen ab. Dann wollen sie eine Freundin haben, und damit haben sie plötzlich ein »neues Projekt«, und dann sind sie bereit, der Freundin zuliebe zum Beispiel pünktlich zu sein und Handlungen zu planen.
Katharina Saalfrank: Und erfahren das Fehlende quasi nach.
Gerald Hüther: Dann erfahren sie es nach, ja! Aber die Chance ist nicht immer so groß, dass das passiert. Wenn diese Kinder selbst der Meinung sind, dass das ein genetischer Defekt sei mit einer Stoffwechselstörung und dass sie die Pillen brauchen, so wie man Insulin braucht bei Pankreasinsuffizienz, dann gibt es für viele gar keine Chance, dass die dann irgendwann noch mal die
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